Diskussionsbeiträge
der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 53, 2004
Frankfurter Rundschau, 5.10.2000,
S. 8, Schule und Hochschule
Wenn Miroslav in "Feindesland"
reist
Hamburger Jugendliche organisieren
mit serbischen Schülerinnen und Schülern einen nicht alltäglichen Austausch
HAMBURG.
Wie lang ist der Nordostseekanal? Wie weit ist es vom Strand in Sankt Peter
Ording bis nach England? Miroslav kann Fragen stellen! Er spricht zwar kaum
Deutsch, aber seine Fragen versteht jeder. Miroslav ist Physiklehrer und zum
ersten Mal in Deutschland. Mit seinem Kollegen Dragan, der Mathematik unterrichtet,
begleitet er 15 serbische Schülerinnen und Schüler des ersten Gymnasiums von
Kragujevac nach Hamburg. Korrektur: Die Jugendlichen sind
nicht alle aus Serbien. Einige kommen aus Kroatien. Im Zuge der letzten Balkankriege
sind ihre Familien von der Mittelmeerküste erst nach Kragujevac geflohen. Dann
fielen auch dort Bomben. Noch einmal sind sie nicht geflüchtet. Wohin denn auch?
Eine Natobombe hat die Gedenkstätte in Kragujevac
getroffen, ausgerechnet die Gedenkstätte für jene 7000 Einwohner der Stadt,
die die Nazis 1941 in Kragujevac erschossen haben. Eine
andere Natobombe steckt noch in einem Gebäude am Marktplatz. Man habe kein Geld,
um sie zu entschärfen, sagt Aleksandra. Aber sie sei einzementiert worden. Maria,
eine von 14 Hamburger Jugendlichen, ist im Frühjahr im Zuge eines Schüleraustauschs
nach Kragujevac gereist. Sie hat in unmittelbarer Nachbarschaft dieser Bombe
gewohnt. "Armut hatte ich ja erwartet. Riesiger Plattenbau. Eine Wohnung
mit einem Zimmer, einer kleinen Küche, einem Badezimmer und einem Flur. Im Flur
wurde gegessen, im Flur schlief der Sohn auf einer Bank, die Eltern auf einem
ausklappbaren Sessel und Ana, meine Austauschpartnerin, und ich auf dem wohl
komfortabelsten Möbel: dem ausgeklappten Sofa , wo sonst die Eltern schlafen."
Und unten, umringt von den anderen Plattenbauten, die einzementierte Bombe.
Oben sitzt Maria mit Ana und dem Rest der Familie am Tisch.
Am Essen wird nicht gespart, Maria ist gerührt, und die Familie ist ebenfalls
gerührt, weil diese deutschen Jugendlichen die ersten sind, die sich entschuldigen
für das, was passiert ist. Korrektur: Sie
sind nicht die ersten. Es hat schon eine Gruppe von Hamburger Gewerkschaftern
gegeben, die sich um den Schauspieler Rolf Becker herum gesammelt hatte und
im vergangenen Jahr nach Kragujevac gereist war. Rolf Becker hatte dann
an Marias Schule von seinen Beobachtungen in Serbien berichtet. Maria:
"Ich war gar nicht angetan von dem Gedanken, dass Deutschland wieder einen
Krieg führt, und ich hab' es auch als Provokation meiner Generation empfunden.
Ich hatte das Gefühl, uns soll gezeigt werden: Krieg ist wieder möglich. Den
Medien glaubte ich nicht." Durch Rolf Becker fühlte sie sich - und mit
ihr die Friedensinitiative an der Hamburger Jahnschule - zum ersten Mal glaubhaft
über Serbien informiert, und die Schülerinnen und Schüler beschlossen, einen
Austausch in die Wege zu leiten. Das ist ihnen gelungen! Selbst Christa Carl,
die Schulleiterin, staunt. "Wenn die Politiker auch noch nicht so weit
sind: Wir finden hier alle, dass Serbien zu Europa gehört." Dragan
und Miroslav wollen mit der Reporterin nicht über Politik sprechen. Einmal rutscht
es doch heraus: Wenn Serbien nicht zu Europa gehört, dann könnte der Irak seine
Hand auf Serbien legen ... Die Jugendlichen haben viel
miteinander über Politik geredet und sind sich in einem Punkt einig: Wir sind
das Volk, wir trauen weder unseren noch euren Politikern. Haben wir Geld
für die Expo? Nein. Schade. Also dann: Party im "Planet". Jeden Abend
Party. Das war schon in Kragujevac so. In Hamburg muss das auch sein, finden
Gäste und Gastgeber und gähnen müde aber erlebnishungrig. Party- und Umgangssprache
der Jugendlichen untereinander ist Englisch, das können sie besser als ihre
Lehrer. Deutsch lernen sie in Kragujevac auch. Doch Krieg, Krankheit und ein
Lehrerstreik haben den Unterricht unterbrochen. Ihre Intention
war es, sagt Maria, sich am Beispiel der Stadt Kragujevac ihr eigenes Bild zu
schaffen von dem, was passiert ist. Die Menschen da kennenzulernen und zu gucken:
Sind das wirklich Feinde? "Und für mich war es auch wichtig, denen zu zeigen:
Ich stimme der Politik meines Landes und seinen Reaktionen auf Serbien nicht
zu. Ich hatte aber auch Angst, dass Leute dort richtig unfreundlich zu uns sind."
In Kragujevac sei niemand zu ihnen unfreundlich gewesen, greift Aljoscha aus
der Hamburger Austauschgruppe den Faden auf, "im Gegenteil: Wir waren dort
im Fernsehen, der Bürgermeister hat uns begrüßt, manche sprachen uns auf der
Straße an, ob sie nicht auch nach Hamburg kommen könnten." Ganz
anders die offizielle Begrüßung in Hamburg: Öffentlichkeit liess sich für diese
Begegnung kaum herstellen, es war kein Medienereignis. Hamburg hat so oft Gäste.
Und so viele Ausländer. Sogar Afrikaner gibt es in Hamburg! Die Schülerinnen
und Schüler aus Kragujevac staunen, sie haben noch nie Afrikaner gesehen, auch
keine Asiaten ... Das Programm sieht eine Fahrt nach Husum vor. Warum denn Husum?
"In Hamburg sehen unsere Gäste lauter hohe Häuser. In Husum sehen sie mal
kleine", erklärt Gastgeberin Leonie. Das Programm haben die Jahn-Schülerinnen
und -Schüler selbst zusammengestellt. Auch den Lehrer, der ihren Austausch begleitet,
haben sie selbst ausgesucht. Ihm wurde allerlei aufgebürdet, er war Mädchen
für alles und musste allerlei lernen. Vor allem musste er sich in den vielen
Diskussionen, die dem Austausch vorangingen, zurückhalten. "Die Jugendlichen
finden immer wieder zum Wesentlichen zurück", sagt Ernie, Ernst Otte, Deutsch-
und Geschichtslehrer. "Erst reden sie alle durcheinander, und dann kommt
plötzlich eine Frage auf, und die gehen sie dann ganz geradlinig an." Manchmal
allerdings mussten auch Kurven gefahren werden: Woher kommt das Geld für so
einen Austausch? Die Schulbehörde hat 3000 Mark gespendet, andere Spenden fielen
kleiner aus, der Stern lehnte es ab, die Jahn-Schüler nach Kragujevac zu begleiten
und eine Reportage darüber zu machen: wieder eine mögliche Geldquelle weniger.
Insgesamt kamen dennoch 17 000 Mark zusammen. Buchhalter Ernie sagt, das Geld
sei jetzt bis auf den letzten Pfennig weg. Die Reise nach Kragujevac und die
Reise der Serben nach Hamburg musste davon bezahlt werden.
Denn in Kragujevac ist nach dem Krieg die Not groß. Ein durchschnittlicher Monatslohn
beträgt 80 Mark. Aber wer hat schon Arbeit? Die Autofabrik in Kragujevac ist
zerstört. Die Zulieferbetriebe haben nichts zu tun. Wer
spendet jetzt für einen Schüleraustausch nach Serbien? Serbien gilt ja immer
noch als Feindesland. Und wie sehen es die Serben? Sie bereisen Feindesland
auf Feindeskosten. Miroslav sagt, der Krieg habe den Jugendlichen den Glauben
an die Gerechtigkeit in der Welt genommen. Dajana sagt: "Die Regierungen
sind nicht die Völker. Wir hatten nicht das Gefühl, in Feindesland zu reisen."
"Vielleicht", jetzt schaut Miroslav zu Boden,
und Biljana übersetzt verlegen: "ist das ein Problem der Deutschen, dass
sie immer glauben, das, was die Regierung mache, sei richtig. Sie lassen sich
so leicht verführen. Wir nicht." In Kragujevac gibt es viele Milosevic-Kritiker.
Der Bus hat die Gruppe in Husum zwischen
den kleinen Häusern abgesetzt. Man streunt herum, sitzt im Garten vom
Theodor-Storm-Haus. Ein deutscher Dichter? "Ich kenne nur Goethe",
lacht Dajana verlegen. Und dann fährt der Bus weiter nach Sankt Peter Ording.
"Besichtigung der Nordsee - ist doch klasse", findet Leonie. Aber
an die Nordsee müssen sich die Gäste erst gewöhnen. Barfuß am Strand laufen:
bei der Kälte? Und das Wasser kommt und geht? Lieber nicht! Oder vielleicht
doch? Von diesen 15 Jugendlichen ist erst einer überhaupt
im Ausland gewesen, und für Ana, deren Eltern als besonders arm gelten und die
deswegen am Austausch eigentlich lieber nicht teilnehmen sollte, für Ana wird
das auf lange Sicht die letzte Reise ins Ausland gewesen sein. Ana ist 18.
Um den Schüleraustausch mit Kragujevac aufrecht zu erhalten, werden noch Nachfolger und Spender gesucht: Treuhandkonto: Ernst Otte, Stichwort Kragujevac, Hamburger Sparkasse, BLZ 200 505 50, Kto.: 12 36 12 53 97
Sibylle Hoffmann
back to documents
back to overview