Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 53, 2004

5 Social Identification and personal entanglement (Distance/ dehumanization vs. social identification)
D5 De-escalation-oriented pole: Cooperative social commitment
D5.1

Refrains from identification with escalation-oriented political or military leaders on all sides

    Example D5.1.2


Süddeutsche Zeitung, 4.2.1961, S. 6

Der Algerien-Rapport des Reserveobersten Jules Roy
Ein französischer Schriftsteller beschwört seine Landsleute zum Verhandeln mit seinen Landsleuten

Von unserem Redaktionsmitglied Maxim Fackler


Mit keinem Roman und mit keinem Theaterstück hat der französische Schriftsteller Jules Roy, Freund des verstorbenen Albert Camus, einen solchen Erfolg errungen wie im vorigen Jahr mit seinem Buch über den Krieg in Algerien. Roy hat früher den Prix Renaudot und den Prix Enghien erhalten; diesen Auszeichnungen der literarischen Welt wird für seine algerische Dokumentation, Klage und Anklage kaum eine neue Auszeichnung ähnlicher Art folgen; aber das Echo auf La Guerre d´Algérie ist nachhaltiger als alle Preise. Die Erregung, die den Autor in Algerien erfaßt hat, hat sich auf seine französischen Leser übertragen und sie ist noch nicht abgeklungen. Neu liegt die Übersetzung ins Deutsche vor. (Jules Roy: Schicksal Algerien. Classen-Verlag Hamburg.)
Jules Roy, von dem in Deutschland zum erstenmal 1948 Auszüge aus einem Fliegertagebuch erschienen sind, und der dann bekannter wurde, als 1953 in Baden-Baden sein Stück Die Zyklone aufgeführt wurde, ist von Geburt Algerier. Von Beruf war er Soldat, rund ein Vierteljahrhundert lang, bis er als Oberst der Luftwaffe den Dienst quittierte. Seitdem lebt er als Bauer in Frankreich. Im vorigen Jahr trieb es ihn, der gleich Marschall Juin der Sohn eines in Algerien stationierten französischen Gendarmen ist, zurück in die Heimat. Den "schmutzigen Krieg" in Indochina hatte er noch mitgemacht; danach war er Zivilist geworden. Die Heimat kannte er kaum noch, Algerien war eine Entdeckung. Er machte sie an Hand seines dort lebenden Bruders und der Schwägerin, die in seinem Bericht als Gesprächspartner nun Kronzeugen sind. Er suchte das jetzt von Mohammedanern bewohnte väterliche Haus auf; er sprach mit Hauptleuten, Pfarrern, Beamten, Fellaghas und mit den "kleinen Weißen", denen Algerien nicht anders als den Mohammedanern die Heimat ist. Die beschwörenden Worte, die er nach seiner Rückkehr an seine Landsleute richtete, kamen ihm beim Anblick der trostlosen Lager, in denen die aus dem Kampfgebiet ausgesiedelten Algerier leben, und auf der Fahrt entlang der Barrage Morice, jenem elektrisch geladenen Stacheldrahtverhau, das Ostalgerien von Tunesien trennt.
Jules Roy, der sich keiner parteipolitischen Richtung verschrieben hat und der in seinen frühen Fliegertagebüchern an Saint-Exupéry erinnert, sieht Böses auf beiden Seiten, aber für ihn liegt in der französischen Waagschale schwerstes Unrecht. Der Geist jener braven kleinen Franzosen, jener tüchtigen Männer und Frauen, die sich in die Arbeit verbeißen, den Mohammedanern aber in einer Weise begegnen, als seien sie nur Zubehör des Landes, läßt Roy die Zornesader anschwellen; der Ungeist also, den er dann, ohne Schonung auch für Bruder und Schwägerin, beschreibt. So entspinnt sich mit dem Bruder René und mit der Schwägerin Louise folgendes Gespräch, nachdem man zuvor zusammen über die reichen Colons geredet hat, die an die "Befreiungsfront" (FLN) Abgaben zahlen, damit sie verschont bleiben, und die ihr Kapital in der Schweiz haben.

Das große Gespräch mit dem Bruder

"Aber wir, wir müssen hierbleiben", sagt René.

Darum, sagte ich, müßten sie die Sache in Ordnung bringen und nicht die reichen Colons, die doch nur einen kleinen Teil der Europäer in Algerien ausmachten.
"Aber sie haben das Geld", sagte René, "sie können in Frankreich erzählen, was sie wollen und auf sie hört man. Wenn es nur um uns ginge, wir würden mit den anderen schon einig werden, das kannst du mir glauben."
"Und wie?"
"Wir würden zu ihnen sagen: ´Ihr wollt für eure Arbeit so viel bekommen wie wir? Einverstanden. Ihr wollt Leute wählen, die eure Interessen wirklich vertreten? Bitte sehr. Ihr wollt eure Kinder in die Schule schicken, damit sie die Prüfungen machen und Beamte, Ärzte oder Ingenieure werden können? Die Prüfungen sind für alle gleich. Ihr wollt Grund und Boden haben? Nehmen wir ihn doch denen weg, die zuviel davon haben, und gegen wir ihn denen, die nicht genug haben. Aber wenn ihr uns ins Meer drängen wollt, dann kann ich euch nur sagen, da könnt ihr lang warten. Denn wir werden uns verteidigen, weil das nicht gerecht ist. Autos, soviel ihr wollt, wenn ihr auch durch die Gegend fahren und euch unbedingt den Hals brechen müßt. Aber wir sind hier geboren so wie ihr, und wir sind hier zuhause, weil wir keinem etwas gestohlen haben.´ Ja, du kannst mir glauben, ich würde mit ihnen einig werden."
"Du schon", sagte Louise, "aber sie? Sie sind doch zu dumm."
"Ach laß...", sagte René.
"Du weißt doch, wie sie sich in der Schule anstrengen müssen, um mit den Europäern mitzukommen."
"Vielleicht deshalb, weil sie zwei Sprachen sprechen", sagte ich.
"Nein. Sie können es einfach nicht. Das ist zu hoch für sie. Und sie strengen sich auch nicht richtig an."
Ein Vetter war zum Abendessen zu uns gekommen; er war Lehrer und unterrichtete an der Volksschule von Ménerville.
"Ich kann dir nicht recht geben", sagte er bedauernd. "Die fünf Besten in meiner Klasse sind Araber. Sie können sehr gut folgen. Ich möchte sagen, sie haben einen echten Wissensdurst."
"Aus Eifersucht auf die Franzosen", sagte Louise. "Sie würden sich am liebsten zu Tode schuften."
"Das verstehe ich nicht", sagte ich. "Eben hast du doch noch gesagt, sie seien faul."
"Von Natur ja. Aber wenn es darum geht, zu zeigen, daß sie mehr wert sind als wir..."
"Weißt du", sagte ich, "du darfst nicht glauben, daß sie mit diesem Ehrgeiz allein stehen. Das ist doch ganz menschlich."
"Na schön." Louise gab sich geschlagen. "Kann sein. Kann ja sein, daß sie intelligenter sind als wir und daß sie ebensogut wie wir Autos reparieren können. Vielleicht haben die Läuse sie so klug gemacht."
Niemand lachte. Ich war bestürzt. Ich wollte gern zugeben, daß der Kummer zu einer gewissen Ungerechtigkeit führen kann, aber ich hatte Mühe, eine solche Verblendung zu verstehen. Dabei hat Louise ein gutes Herz. Ich habe oft erlebt, daß sie den Tränen nahe war, wenn ein Nachbarskind krank lag oder René übermüdet von der Arbeit kam. Aber es scheint, als sei sie dem Unglück gegenüber völlig gleichgültig, wenn es die Araber trifft. Sie sagt nicht "sie sind arm", sondern "sie sind verlaust", weil sie in ihrer Jugend kleine Araber voller Ungeziefer gesehen hat. Sie glaubt offenbar, daß in den Haaren der Europäer keine Läuse leben können. Noch heute morgen hat sie von den Ärmsten, die in den Internierungslagern leben, gesagt: "Manche haben nur Gras zu essen..." Wurzeln oder Brennesselsuppe. Und das ließ sie anscheinend völlig kalt; man beklagt ja auch das Schicksal des Viehs nicht. Man kann Louise nicht dafür verantwortlich machen. Vor fünfzig Jahren dachten wir alle so, und für viele hat sich eben nichts geändert.

Bei Louisens gutem Herzen nun knüpft Roy gewissermaßen an, wenn er zu seiner fundamentalen Forderung kommt: Frankreich muß mit den Männern von der FLN verhandeln. Er schockiert alle Hauptleute und Obersten, denn beim Anblick der Aufschrift auf einer Hauswand, die lautet "Fellagha, ergib dich. Du bist verloren!" wagt er die Umkehrung des Spruchs als politische Weisheit anzubieten. Man solle schreiben, sagt er "Fellagha, komm zurück. Du hast gesiegt." Damit meint er nicht einen militärischen Sieg, denn diesen haben die Aufständischen nicht errungen und werden ihn nicht erringen.
Freilich bleibt militärisch auch für Roy offen, was geschehen könnte, wenn Ferhat Abbas und seine Männer den Krieg wirklich internationalisieren: wenn der Osten massiv eingriffe. Als politische Folge sieht er dann das kommen, was die braven Hauptleute, an deren Integrität und Tapferkeit Roy nicht zweifelt, schon für den heutigen Tag glauben: Sie verteidigten Algerien vor dem Kommunismus, sie verteidigten hier den Westen.

Gespaltene Armee


Es gibt Offiziere, die Roys Buch für weinerlich oder literarisch halten. Marschall Juin, General Jouhaud, General Challe, der seinen NATO-Posten aufgibt, um nicht länger de Gaulle dienen zu müssen, verdammen die Algerien-Politik des Präsidenten gerade in den Punkten, in denen sie Roys Thesen am nächsten kommt. Der brave Hauptmann, Roys Gesprächspartner, wird gehorchen, was immer de Gaulle befiehlt. Aber, so sagte General Costes als Zeuge im Pariser Barrikadenprozeß, es gibt zwei Armeen: eine, die gehorcht, und eine, die Befehle nur als Diskussionsgrundlagen ansieht. Diese Aussage hat viele erschreckt, und sie hat die Frage wieder dringlicher gemacht, ob de Gaulle, wenn er mit den Aufständischen der FLN verhandeln wollte, die Hand frei hat und wann er wohl den großen Schritt wagen könne.

 

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