Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 53, 2004

4 Emotional involvement in the conflict
D4 De-escalation-oriented pole: Constructive emotions
D4.4

Empathy for "their" situation opens up a new perspective: if we can find a solution (together) that takes all sides' needs into account, reconciliation will become possible

    Example D4.4.3



Südkurier, 8.2.1946, S. 4

Frankreichs wirtschaftlicher Aufbau
Viel ist schon getan, aber immer noch große Schwierigkeiten

Die Erklärungen des französischen Ministers für nationale Wirtschaft und Finanzen André Philip, haben schlaglichtartig gezeigt in welch schwerer wirtschaftlicher Krise sich Frankreich immer noch befindet. Die Staatseinnahmen reichen bei weitem nicht aus, um die Ausgaben zu decken. Für das Jahr 1946 wird bei Erhöhung der allgemeinen Staatsschulden um fast 300 Milliarden ffr. außerdem noch mit einem Defizit von ebenfalls etwa 300 Milliarden ffr. gerechnet. Der Minister wünscht darum eine wesentliche Herabsetzung der Ausgaben und will sogar die Hälfte der Ausgaben des Militärbudgets streichen.
Mit dem Defizit im Etat steht die Lage der französischen Währung eng im Zusammenhang. Die Vorteile der Währungsabwertung sind bereits voll kompensiert. Die Preise sind nicht gestiegen und die Verteuerung der Importe zeigt sich noch nicht, aber immer noch werden auf dem Schwarzen Markt erheblich übersetzte Preise für Pfund und Dollar bezahlt. So wird der Dollar "schwarz" mit ungefähr dem doppelten Betrag gegenüber dem offiziellen Kurs gehandelt. Der Notenumlauf ist weiter gestiegen. Allein in der ersten Januarwoche nahm er um 9 Milliarden auf 580 Milliarden ffr. zu.
Ueber die Ernährungslage sprach der zuständige französische Minister sehr ausführlich, betonte aber dabei, daß kühne Maßnahmen auf finanziellem Gebiet nötig seine, um den Bedarf einerseits und die Produktionsfähigkeit sowie die Möglichkeit zu kaufen andererseits in Einklang zu bringen. Im einzelnen erfuhren wir aus seiner Rede folgende Daten: Um vier Liter Wein im Monat an jeden Franzosen auszuschenken, werden 35 Millionen hl gebraucht, die Ernte hat aber nur 27 Millionen hl gebracht. Der Bedarf an Kartoffeln beträgt 16 Millionen Tonnen, aber die Ernte brachte nur 9 Millionen Tonnen; aus neuesten Meldungen geht hervor, daß jetzt 300 000 Tonnen Kartoffeln aus den USA nach Frankreich importiert werden sollen. Der französische Viehstapel hat sich vergrößert, aber noch lange nicht die alte Höhe erreicht. Dafür ist aber eine Reserve an Gefrierfleisch vorhanden. Intern ergeben sich beim Vieh insofern Schwierigkeiten, als das Vieh aus Provinzen mit scharfer Preiskontrolle in Provinzen mit "toleranterer" Handhabung abgetrieben wird. Die französische Getreideernte erreichte 1945 nur 43 Millionen Zentner gegen 65 Mill. im Jahr vorher und mehr als 100 Mill. Ztr. im Jahr 1938. Die französische Bevölkerung erhält bekanntlich z. Zt. nur 300 Gramm Brot pro Tag. Die noch vorhandenen Getreidevorräte in Frankreich reichen selbst bei diesen niedrigen Rationen nicht bis zur nächsten Ernte. Es fehlt an Schiffsraum, um aus Afrika oder aus Argentinien, wo noch einige Getreidebestände für Frankreich bereitliegen, die Ware hereinzuholen.
Im Gegensatz dazu muß festgestellt werden, daß im Innern Frankreichs das Verkehrswesen wieder normale Formen angenommen hat, sowohl zu Lande wie zu Wasser und in der Luft. So sind z. B. von 4000 Kilometer Eisenbahnlinien schon 3000 Kilometer instandgesetzt. Das konnte allerdings Fehl- und Rückschläge im Rationierungs- und Kontrollsystem nicht ganz verhindern. Auf dem Gebiet der industriellen Produktion sind manche Zweige schon wieder auf dem Vorkriegsniveau angelangt, so z. B. die französische Kohlenförderung. Die Zahl der angeblasenen Hochöfen stieg im Jahre 1945 von 7 auf 25, die Produktion von Gußeisen und Stahl von 6 auf 33 und von 12 auf 48 Prozent des Vorkriegsvolumens. Auch in der Leder-, Textil- und chemischen Industrie hat die Industrie einen Stand von 50 Prozent gegenüber dem letzten Frühjahr erreicht. Die Befriedigung des seit Jahren angehäuften Bedarfs auf textilem Gebiet wird allmählich wieder möglich, aber die Textilbewirtschaftung muß immer noch nach strengen Vorschriften gehandhabt werden, zumal da die Armee immer noch große Aufträge an Uniformen und zur Auffüllung der Lager der Intendantur laufen hat. Im Jahre 1945 sind über 250 000 Tonnen Baumwolle aus USA, Aegypten und Französisch Westafrika eingeführt worden gegen 290 000 Tonnen im Jahre 1938; die Rohstoffeinfuhr ist also fast friedensmäßig. Im Oktober 1945 arbeiteten die Spinnereien mit 42 Prozent ihrer Kapazität. Rund 10 Prozent der Vorkriegsanlagen der französischen Baumwollwebereien sind durch Kriegseinwirkungen verloren gegangen. Bei Rohwolle ist die Lage vorläufig noch ungünstiger, denn der Import betrug nur rund 79 000 Tonnen gegen 164 000 Tonnen im Jahre 1938. Die Produktionen der Seidenwebereien lag im Januar 1945 noch bei 338 Tonnen und im Oktober schon bei 694 Tonnen. Die Entwicklung in der französischen Textilindustrie wird laut NZZ durch den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften gehemmt, auch die Energie und Kohlennot ist noch ziemlich groß.
Man darf ja nicht vergessen, daß das Hochspannungsnetz Frankreichs besonders stark gelitten hatte. 1600 Masten waren zerstört und 1200 beschädigt. 24 Transformatoren und 57 Hauptschalter außer Dienst. Alle 220-Volt-Leitungen in und um Paris waren unterbrochen.
Berücksichtigt man dies alles, dann wird man das Ausmaß des Wiederaufbaues in Frankreich, aber auch die Schwierigkeiten, in denen sich das Land noch immer befindet, verstehen.

Heiser.

 

back to documents
back to overview