Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 53, 2004

2 Evaluation of the war parties' rights and intentions
D2 De-escalation-oriented pole: Balance
D2.3

Emphasis on common interests and/or description of the (concrete) benefits that both sides could gain from ending the war

    Example D2.3.1


Südkurier, 12.01.1952

Eine Träumerei von Robert Schuman
Kommentar

Da werden also eines Tages in Trier, Brüssel oder Luxemburg 9 Herren aus 6 verschiedenen Ländern zusammenkommen, denen nichts geringeres anvertraut ist, als eine neue Epoche der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Europas einzuleiten. Jeder von ihnen wird nachdenklich gestimmt sein, wenn er zum ersten Male die Schwelle des Konferenzzimmers überschreitet und Platz an dem großen runden Tisch nimmt, der vielleicht gar nicht viel anders aussieht als ein großer Stammtisch. In der Mitte befindet sich ein Gestell mit einem Schild. Auf dem stehen in gewichtigen Lettern die zwei Worte: Hohe Behörde.

Von der Gemütlichkeit eines Stammtisches will natürlich hier nichts aufkommen. Schwer lastet die Verantwortung auf jedem einzelnen. Was hier besprochen und beschlossen werden soll, wird sich auf Hunderte von Betrieben, auf Hunderttausende von Arbeitern und Angestellten, auf Millionen von Verbrauchern auswirken. Der eine Delegierte sieht vor seinem geistigen Auge noch die lodernden Stichflammen der Hochöfen Lothringens vor sich, denen er gestern gegenüberstand; dem anderen tönt das unablässige Surren und Poltern der Kohlenförderkörbe an der Ruhr im Ohr. Ein dritter denkt zurück an das unermüdliche Hin- und Hergleiten der Träger, Schienen und Bleche in den Walzwerken der Lombardei. Der Vorsitzende klopft auf den Tisch. Die Gedanken-Bilder verblassen. Fast mit Gewalt eines Zwanges bemächtigt sich jedes einzelnen das Gefühl: Du bist ja nicht da, um das einzelne, dein Industriewerk, dein Land, sondern um das Ganze zu vertreten. Das Ganze aber heißt: Europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft.

"Träume von heute sind die Wirklichkeiten von morgen." Manche meinten, es sei (wie das Klavierstück "Träumerei" von dem romantischen deutschen Komponisten Robert Schumann) ein wirklichkeitsentrücktes Schwärmen, als der französische Außenminister Robert Schuman dem alten Traum von einem einigen Europa in dem nach ihm benannten Plan eine erste reale Grundlage zu geben versuchte. Aber der Außenminister Schuman ist ger
ade deshalb ein erfolgreicher Staatsmann geworden, weil bei ihm abwegede Nüchternheit und Phantasiereichtum zusammentreffen. Noch vor einem Jahr erschien vielen die europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft als Utopie. Heute befindet sie sich in der Verwirklichung. Holland und Frankreich haben den Vertrag bereits ratifiziert. Der Bonner Bundestag hat jetzt ebenfalls zugestimmt. Italien, Belgien und Luxemburg werden folgen. Was dieser Montan-Union höhere Bedeutung verleiht, ist ihr Charakter als Muster für weitere europäische Zusammenschlüsse. Das Bild der europäischen Wirtschaft beginnt sich zu verwandeln. Wohin geht die Fahrt?

Dem neuen Vertrag liegen reale wirtschaftliche Notwendigkeiten zu Grunde, die so stark sind, daß sie schon von sich aus eine Lösung auf internationaler Basis gefordert hätten. Jeder weiß, daß wir in Westeuropa an folgendem kranken: Was der eine häufig zu viel hat, hat der andere manchmal zu wenig. Der eine Staat hat Rohstoffe, aber Mangel an geeigneten Arbeitskräften. Das andere Land erstickt an dem jährlichen Zuwachs arbeitswilliger Hände, hat aber keine Bodenschätze. Hier fehlt das Kapital, dort die technische Organisation usw. Wir hätten alle mehr, wenn wir uns einig wären; vor allem hätten wir mehr an den beiden wichtigsten Grundstoffen moderner Volkswirtschaften: Kohle und Stahl. Ganz abgesehen davon, daß wir nicht auf ewige Zeiten die Kostgänger Amerikas bleiben können. Alles was mit Kohle und Eisen zusammenhängt (und mit Kohle und Eisen hängt wieder der Haushalt - und das Haus - jedes einzelnen von uns zusammen), soll jetzt eine Gesamtlösung innerhalb eines umfassenden Vertragswerkes finden, das oberste Leitungsbehörden mit staatlichem Charakter und parlamentarische Kontrollen mit Beteiligung der Arbeitnehmer vorsieht.

Man hat in bezug auf den Schumanplan von dem einheitlichen Markt der 150 Millionen gesprochen. Gerade dieses Ziel der besseren Marktversorgung aller ist es, das uns den Schuman-Plan in einem neuen, nein, in einem altbekannten und vertrauten Lichte erscheinen läßt. Je tiefer wir uns in die Struktur dieses neuen Wirtschaftsgebildes hineindenken, desto bekannter muß uns das vorkommen, was ihm eigentlich und im Kerne zugrunde liegt. Es ist der auf den zwischenstaatlichen Verkehr übertragene Geist genossenschaftlichen Wirtschaftsdenkens. Deshalb ist es auch nicht von ungefähr, daß der Gedanke zu einem ersten Zusammenschluß dieser Art in Frankreich geboren wurde. Im Lande der großen Sozialphilosophen hat der Genossenschaftsgedanke von jeher eine besondere Pflegestätte gehabt.
Man kann es wirklich nicht anders kennzeichnen: Die Montan-Union Schumans, die weder monopolistisches Kartell noch Konzern noch bloße Unternehmer-Vereinigung ist, stellt das erste Beispiel einer großen europäischen Wirtschaftsgenossenschaft dar. Dämmert damit aber nicht überhaupt die Möglichkeit auf, zwischen dem Extrem der freien kapitalistischen Ellbogen-Wirtschaft und dem anderen Extrem der kollektivistischen Zwangsjackenwirtschaft auch international den Weg zu einer wahren Verständigungs-Wirtschaft, zur echten Wirtschaftsdemokratie zu finden?

Die tragenden Stützen der neuen Gemeinschaft sind Deutschland und Frankreich. Beide haben mächtige Flöze, große (wenn auch nicht ausreichende) Produktionsziffern an Kohle, beträchtliche Eisenerzvorkommen und eine sehr beachtliche Zahl von eisen- und stahlerzeugenden und verarbeitenden Hochöfen, Besemerbirnen, Siemens-Martin-Oefen, Walzstraßen und Schmiedepressen einzubringen. Der Anteil der Bundesrepublik beträgt bei Kohle über 50 (Frankreich 22), bei Stahl 35 (Frankreich 25) Prozent. Demgegenüber bringt Italien wesentlich schwächere Posten an Kohle, Erz und Stahl mit. Bei den drei Benelux-Ländern, von denen Belgien das wirtschaftlich stärkere ist, hat nur dieses Kohle, Erz und Stahl. Die Niederlande haben nur Stahl und Kohle, Luxemburg nur Stahl und Erz.

Der genossenschaftliche Charakter der neuen Gemeinschaft zeigt sich darin, daß in dem Aufbau der Organisation nicht die materielle Einbringung, d.h. die Tiefe und Ausdehnung der Flöze, die Mächtigkeit der Oefen usw. entscheidet. Frankreich mit 25% Stahl und die Bundesrepublik mit 35% Stahl haben jede nur 22,2% Anteil an den Stimmen der Hohen Behörde, dem obersten Lenkungsorgan der Montan-Union. Sie hat neun Mitglieder: je zwei schicken Deutschland und Frankreich (4), je eines schicken Italien, Belgien, Holland, Luxemburg (4). Ein weiteres wird hinzugewählt. Der neunte Mann darf kein Franzose oder Deutscher sein.
Die weitere Organisation ist etwas kompliziert. Neben der "Regierung" (der Hohen Behörde) und dem Ministerrat dienen der parlamentarischen Kontrolle: 1. ein aus 30-51 Mitgliedern bestehender Beratender Ausschuß (je ein Drittel Erzeuger, Arbeitnehmer, Verbraucher); 2. eine Gemeinsame Versammlung (je 18 Deutsche, Franzosen, Italiener, je 10 niederländische und belgische, 4 luxemburgische Vertreter). Außerdem gibt es noch einen Gerichtshof. (Der beratende Erzeuger-Ausschuß wählt übrigens den Ministerrat).
Vereinbarungen wie der Schumanplan und alles, was aus ihm vielleicht folgt, sollen uns das Leben wirtschaftlich nicht schwerer sondern leichter machen. Aber solche Erleichterungs- und Entlastungsmöglichkeiten im komplizierten Gesamtgefüge der westeuropäischen Wirtschaft zu entdecken, ist nicht jedermanns Sache - sie in fruchtbare Wirklichkeit umzusetzen, nur wenigen beschieden. Auch um Fortschritte auf dem Gebiete der Verwendung von Kohlenflözen, Bessemer-Birnen, Walzenstraßen und Schmiedehämmern zu erzielen, muß man hohe Phantasiekräfte anspannen, muß man "träumen" können. Nicht nur die Unternehmer müssen das, den Vertretern der Arbeitnehmer und Verbraucher ergeht es nicht anders.
Träume von heute sind die Wirklichkeiten von morgen. Eine Träumerei von Robert Schuman wird jetzt Wirklichkeit. Wer in Kohleflözen und Walzenstraßen nützlich zu träumen weiß, schlägt Brücken aus der Not des Heute in eine bessere Zukunft. Columbus träumte von Indien und entdeckte Amerika. Hier wurde von Kohle und Stahl geträumt und entdeckt wird - Europa!

Dr. GUSTAV ADOLF GROSS

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