conflict & communication online, Vol. 1, No. 1, 2002
www.cco.regener-online.de
ISSN 1618-0747

 

 

 

Ilhan Kizilhan (Villingen-Schwenningen)
Konflikte und Konfliktlösungen in patriarchalischen Gemeinschaften am Beispiel der Solidargruppen in Ostanatolien

Patriarchalische Gesellschaften verfügen über eine komplexe Struktur mit verinnerlichten Prozessen, die Jahrhunderte überdauern können. Für Individuen in einer derartigen Gesellschaft sind diese Prozesse und Regeln manchmal so verinnerlicht, dass sie in bestimmten Situationen und Konstellationen beginnen, automatisch zu handeln, ohne dass ihnen bewusst ist, weshalb sie sich gerade in dieser Situation so und nicht anders verhalten. Gerade bei Konflikten zwischen einem Individuum und einer Gruppe werden diese automatisierten Verhaltens- und Handlungsprogramme aktiviert. Die kollektiven Gesellschaften mit starken patriarchalischen Strukturen verfügen vermehrt über automatisierte Verhaltensweisen und Regeln, die historisch in der Gruppe entwickelt worden sind. Prozesse der Kontrolle oder Überprüfung und Neubewertung von Situationen sind weniger ausgeprägt oder finden wieder automatisiert in dem vorgegebenen Rahmen der patriarchalischen Strukturen statt.
In diesem Beitrag werden am Beispiel von patriarchalischen Solidargruppen in Ostanatolien die Konflikte, aber auch mögliche Konfliktlösungen diskutiert. Zur Konfliktlösung ist eine genaue Information über Regeln, Rituale, Zeremonien und historische Gegebenheiten der jeweiligen Gruppe Grundvoraussetzung, um z.B. Schlichtungen oder Lösungen zu ermöglichen. Geringe Kenntnisse dieser Strukturen, Verhaltens- und Handlungsprogramme können die Konflikte verschärfen und zu verheerenden Folgen führen. So ist es durchaus möglich, eine Blutrachetat nach bestimmten Regeln zu schlichten. Bei falschen Konfliktlösungsstrategien kann die Folge jedoch z.B. ein erneuter Krieg zwischen zwei Stämmen sein.
Daher werden wir zunächst die Gesellschaftsstruktur genauer diskutieren und dann auf die möglichen Konfliktlösungen eingehen. Zu den Solidargruppen in Ostanatolien zählen sowohl Türken, Kurden, Iraner als auch Araber, aber auch ethnische und religiöse Gruppen, wie z.B. Yeziden, Aleviten, Assyrer, Ahl-Haqs, etc.. D.h. diese Solidargruppen haben trotz unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Religion sehr ähnliche Strukturen. Dort, wo sie sich unterscheiden, werden wir genauer darauf eingehen.
Es muß aber noch unbedingt darauf hingewiesen werden, dass sich nicht jedes Individuum aus Ostanatolien an diese Regeln halten muss oder hält. Auch die Gesellschaft dort hat sich durch die Globalisierung und neue Kommunikationsnetzwerke verändert. Die unten beschriebene Konstellation trifft vor allem in den ländlichen Gebieten noch zu und stellt ein theoretisches Konstrukt mit praktischer Relevanz dar.

 

 
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Zum Autor: Ilhan Kizilhan, Dr. rer. soc., Dipl. Psych., Institut für Friedensforschung -Mittlerer Osten, Autor zahlreicher Studien zu ethnischen Minderheiten im Mittleren Osten, Wissenschaftlicher Berater für mehrere Kliniken in Deutschland zur Transkulturellen Psychiatrie/Psychologie, psych. Sachverständiger, Psychotherapeut. Veröffentlichungen u.a.: "Die Yeziden. Eine anthropologische und sozialpsychologische Studie über die kurdische Gemeinschaft" (Frankfurt/M.: medico international, 1997); "Zwischen Angst und Aggression. Kinder im Krieg" (Bad Honnef: Horlemann, 2000). e-mail: IlhanKizilhan@t-online.de