conflict & communication online, Vol. 1, No. 2, 2002
www.cco.regener-online.de
ISSN 1618-0747

 

 

 

Wassilios Baros & Klaus-Dieter Reetz (Köln)
Sozialpsychologische Rekonstruktion und empirische Migrationsforschung

Empirische Forschung im interkulturellen Kontext steht vor methodischen Schwierigkeiten und Herausforderungen, welche in den Besonderheiten der Forschungsfelder und der Eigenart der verschiedenen beteiligten Kontexte begründet sind. Verlangt wird ein methodologischer Ansatz, der sowohl die Relevanz des Subjektstandpunktes als auch die Komplexität und Dynamik des menschlichen Alltags berücksichtigt. Gängige Techniken der Textinterpretation sind bei der Analyse von Textmaterial für interkulturelle Studien nur begrenzt einsetzbar: Während die rein beschreibende Vorgehensweise eine Entsprechung zwischen Sprache und Weltanschauung unterstellt und dadurch mögliche Differenzen zwischen Sprache und veränderter Lebenspraxis in der Migration nicht erfassen kann, gehen andere Verfahren bei der Analyse latenter Sinnstrukturen von gemeinsam geteilten Interpretationshorizonten aus und lassen die interaktive Dynamik und den Kontext der Kommunikation weitgehend unberücksichtigt.
Die Methode der Sozialpsychologischen Rekonstruktion als textinterpretatives Verfahren geht in ihrer Konzeption von Prinzipien einer subjektwissenschaftlich verstehenden Psychologie aus und ermöglicht durch die Integration handlungstheoretischer sowie kommunikationstheoretischer Ansätze eine systematische Analyse menschlicher Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen. Während dieser methodischer Ansatz im Rahmen wissenschaftlicher Arbeiten zur Friedenspsychologie häufig rezipiert wird, wurde sein analytisches Potential in der Migrationsforschung bislang nicht aufgegriffen.
In diesem Beitrag wird das Verfahren der Sozialpsychologischen Rekonstruktion dargestellt und der Stellenwert der Methode für die empirisch-qualitativ arbeitende Migrationsforschung diskutiert.
Veranschaulicht wird die konkrete Vorgehensweise dieses Verfahrens an einem Fallbeispiel und anhand des Datenmaterials aus partnerzentrierten Gesprächen, welches im Rahmen einer qualitativen Untersuchung zur Lebenssituation griechischer Migrantenfamilien gewonnen wurde. In unserer Analyse geht es darum, unterschiedliche subjektive Formen der Migrationsbewältigung herauszufinden. Unter Beachtung der jeweiligen Kommunikationsdynamik werden latente Bedeutungen erfasst und die Regeln herausgearbeitet, nach denen Migranten ihre subjektive Wirklichkeit konstruieren und dadurch individuell ihre gesellschaftliche Entfremdungsproblematik bewältigen. Durch Analyse des exterritorialisierten Gehaltes der Kommunikation können die "abgewehrten" Themen (z.B. die Widersprüchlichkeit ihrer Migrationssituation) erfasst werden.
Die Analyse zeigt, dass Migranten Widersprüche in ihrer jeweiligen Lebenssituation durch individuelle Bewältigungsformen zu lösen versuchen, die von ihrem Standpunkt her gut begründete Antworten darstellen, in Wirklichkeit jedoch zu einer permanenten Reproduktion ihrer Problemlage führen.
Zur Erweiterung der Sozialpsychologischen Rekonstruktion werden schließlich erste Ansätze für die Durchführung eines argumentativen Rückkopplungsgesprächs aufgezeigt, welches zum Ziel hat, die im Laufe des gesamten Forschungsprozesses geleisteten Interpretationen zum Gegenstand eines Argumentationsprozesses zwischen den Beteiligten (Forscher und Betroffenen) zu machen und die aus diesem Diskurs gewonnenen neuen Erkenntnisse für eine Weiterführung des hermeneutischen Zirkels fruchtbar zu machen.

 

  deutscher Volltext  
 
Zu den Autoren: Wassilios Baros, Dr. päd., wurde 1969 in Giengen a.d. Brenz/Baden Württemberg geboren. Lehramtstudium an der Universität Ioannina/Griechenland, Weiterbildungsstudium der Friedens- und Konfliktforschung sowie der Mediation an der FernUniversität Hagen, Promotion an der Universität zu Köln mit einer Dissertation über "Das Beziehungsgefüge zwischen griechischen Adoleszenten und ihren Eltern im Migrationskontext". Lehrbeauftragter an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FH-Köln. Tätig im Arbeitskreis "Forum Empirische Migrationsforschung". Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Forschungsmethoden, Interkulturelle Pädagogik, Konfliktforschung.
Klaus-Dieter Reetz, Dipl. Psych. Dipl. Betriebswirt, wurde 1948 in Bad Schwartau/Schleswig-Holstein geboren. Studium der Betriebswirtschaft in Köln, Studium der Psychologie an der Universität Hamburg. Promotionsstudium an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Dissertation zum Thema "Schulischer Misserfolg bei italienischen Migrantenkindern". Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heilpädagogischen Fakultät der Universität zu Köln. Tätig im Arbeitskreis "Forum Empirische Migrationsforschung". Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Forschungsmethoden, Kritische Psychologie, Lerntheorien, Interkulturelle Pädagogik.

Adressen: Wassilios Baros, Hansaring 52, D-50670 Köln, Deutschland. e-Mail: baros@bigfoot.de
Klaus-Dieter Reetz, Eifelstraße 12, D-50677 Köln, Deutschland. e-Mail: kdgr@aol.com