conflict & communication online, Vol. 4, No. 1, 2005
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ISSN 1618-0747

 

 

 

Daniel Bar-Tal
Psychologische Hindernisse des Friedensprozesses im Nahen Osten und Vorschläge zu ihrer Überwindung

Die Analyse der Beziehungen zwischen israelischen Juden und Palästinensern im Kontext der Al Aksa Intifada offenbart ein trauriges Paradoxon. Einerseits ist in beiden Gesellschaften die Mehrheit der Bevölkerung bereit für weitreichende Kompromisse, um eine friedliche Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts zu erreichen. Andererseits jedoch pflegt die Mehrheit der Bevölkerung in beiden Gesellschaften Stereotype über das Gegenüber, die von extrem negativen Eigenschaften geprägt und mit tiefem Misstrauen verbunden sind, so dass jegliche Verhandlung und Konfliktlösung unmöglich gemacht wird.
Der vorliegende Aufsatz erklärt dieses Paradoxon auf der Basis der Theorie des transitional context, wobei der Fokus auf die israelisch-jüdische Gesellschaft gerichtet ist. Ein transitional context besteht aus beobachtbaren, klar definierten physischen, sozialen, politischen, ökonomischen, militärischen und psychologischen Bedingungen, die vorübergehend sind und in ihrer Komplexität die Umwelt darstellen, in welcher Individuen und Kollektive agieren. Diese Bedingungen entstehen in der Folge von wichtigen Ereignissen und Informationen, die von den Mitgliedern der Gesellschaft wahrgenommen und verinnerlicht werden und die ihrerseits deren Verhalten und Handeln beeinflussen.
Im Fall der israelisch-jüdischen Gesellschaft bestand dieser Kontext aus wichtigen Ereignissen und Informationen im Zusammenhang mit dem Gipfel in Camp David und dem Beginn der Al Aksa Intifada im Jahr 2000. Dies bildete die Grundlage für die Entstehung von Angst, für die Delegitimierung der Palästinenser und die kollektive Sichtweise, selbst Opfer zu sein. Daraus entwickelten sich gravierende Hindernissen für Verhandlungen in Richtung auf eine friedliche Konfliktlösung. Sie führten zur Unterstützung von Gewalthandlungen gegen die Palästinenser; zur Unterstützung eines Führers, der aus seiner Entschlossenheit, mit dem Gegner unnachgiebig umzugehen, keinen Hehl macht; zu einem Gefühl der Unversöhnlichkeit und zur Unterstützung einer einseitigen Trennung von den Palästinensern.
Der letzte Teil des Aufsatzes behandelt auf allgemeiner Ebene den psychologischen Zustand, nach dem beide Gesellschaften - in der augenblicklichen Situation eines gewaltsamen Konflikts ohne Verhandlungen - streben sollten. Nach beinahe vier Jahren gewaltsamer Konfrontation sollten Israelis und Palästinenser versuchen, einen Zustand friedlicher Koexistenz zu erreichen, welcher gekennzeichnet ist durch einen beidseitigen Prozess der Legitimierung, des Ausgleichs, der Differenzierung und der Personalisierung sowie durch neue Hoffnung und gegenseitige Akzeptanz. Im Kern bedeutet Koexistenz eine Geisteshaltung, die von den Mitgliedern der Gesellschaft geteilt wird. Um zu einer Koexistenz zu gelangen, ist es notwendig, das psychologische Repertoire der Gesellschaften zu verändern, die in den Friedensprozess involviert sind. Das Erreichen dieser Veränderung hängt zuallererst ab von den Intentionen, den Aktivitäten, der Entschlossenheit und der Stärke derer, die den Friedensprozess unterstützen: sowohl unter Führungspersönlichkeiten als auch in politischen Parteien, in den NGOs und bei einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft. Zum zweiten hängt die erfolgreiche Etablierung eines Klimas der Koexistenz in der Gesellschaft davon ab, inwiefern die gesellschaftlichen Institutionen mobilisiert werden können, die neuen Botschaften des Friedensprozesses zu verbreiten. Die Massenmedien und das Bildungssystem spielen bei dieser Aufgabe eine wichtige Rolle.
Abschließend wird herausgearbeitet, dass eine ausstehende Veränderung des psychologischen Repertoires dem Friedensprozess bislang entgegensteht. Grundlegende Voraussetzungen dafür, um dies ändern/angehen zu können, sind erstens Verhandlungen zwischen den Gegnern, welche die Entwicklung einer beidseitig akzeptablen Übereinkunft ermöglichen, und zweitens die Beendigung oder zumindest ein deutlicher Rückgang aller Arten von Gewalt.

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  englischer Volltext  
 
Zum Autor:
Daniel Bar-Tal, Professor für Sozialpsychologie an der School of Education, Direktor des Walter-Lembach-Instituts für jüdisch-arabische Koexistenz durch Erziehung an der Universität Tel Aviv. Mitherausgeber des Palestine Israel Journal. 1999-2000 Präsident der International Society of Political Psychology. Seine Forschungsinteressen liegen in politischer und Sozialpsychologie, die die psychologischen Grundlagen schwer lösbarer Konflikte und von peace making untersucht. Aktuelle Buchpublikationen: Shared Beliefs in a Society (Sage, 2000); Stereotypes and Prejudice in Conflict: Representations of Arabs in Israeli Jewish Society (zusammen mit Yona Teichman; Cambridge University Press, 2005); Patriotism: Homeland love (hrsg. zusammen mit Avner Ben Amos, Hakibbutz Hameuhad, 2004, Hebräisch).

Adresse: School of Education, Tel Aviv University, Tel Aviv, 69978, Israel. eMail: daniel@post.tau.ac.il
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