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Daniel Bar-Tal
Psychologische Hindernisse des Friedensprozesses im Nahen Osten und
Vorschläge zu ihrer Überwindung
Die Analyse der Beziehungen
zwischen israelischen Juden und Palästinensern im Kontext der Al
Aksa Intifada offenbart ein trauriges Paradoxon. Einerseits ist in beiden
Gesellschaften die Mehrheit der Bevölkerung bereit für weitreichende
Kompromisse, um eine friedliche Lösung des palästinensisch-israelischen
Konflikts zu erreichen. Andererseits jedoch pflegt die Mehrheit der Bevölkerung
in beiden Gesellschaften Stereotype über das Gegenüber, die
von extrem negativen Eigenschaften geprägt und mit tiefem Misstrauen
verbunden sind, so dass jegliche Verhandlung und Konfliktlösung unmöglich
gemacht wird.
Der vorliegende Aufsatz erklärt dieses Paradoxon auf der Basis der
Theorie des transitional context, wobei der Fokus auf die israelisch-jüdische
Gesellschaft gerichtet ist. Ein transitional context besteht aus beobachtbaren,
klar definierten physischen, sozialen, politischen, ökonomischen,
militärischen und psychologischen Bedingungen, die vorübergehend
sind und in ihrer Komplexität die Umwelt darstellen, in welcher Individuen
und Kollektive agieren. Diese Bedingungen entstehen in der Folge von wichtigen
Ereignissen und Informationen, die von den Mitgliedern der Gesellschaft
wahrgenommen und verinnerlicht werden und die ihrerseits deren Verhalten
und Handeln beeinflussen.
Im Fall der israelisch-jüdischen Gesellschaft bestand dieser Kontext
aus wichtigen Ereignissen und Informationen im Zusammenhang mit dem Gipfel
in Camp David und dem Beginn der Al Aksa Intifada im Jahr 2000. Dies bildete
die Grundlage für die Entstehung von Angst, für die Delegitimierung
der Palästinenser und die kollektive Sichtweise, selbst Opfer zu
sein. Daraus entwickelten sich gravierende Hindernissen für Verhandlungen
in Richtung auf eine friedliche Konfliktlösung. Sie führten
zur Unterstützung von Gewalthandlungen gegen die Palästinenser;
zur Unterstützung eines Führers, der aus seiner Entschlossenheit,
mit dem Gegner unnachgiebig umzugehen, keinen Hehl macht; zu einem Gefühl
der Unversöhnlichkeit und zur Unterstützung einer einseitigen
Trennung von den Palästinensern.
Der letzte Teil
des Aufsatzes behandelt auf allgemeiner Ebene den psychologischen Zustand,
nach dem beide Gesellschaften - in der augenblicklichen Situation eines
gewaltsamen Konflikts ohne Verhandlungen - streben sollten. Nach beinahe
vier Jahren gewaltsamer Konfrontation sollten Israelis und Palästinenser
versuchen, einen Zustand friedlicher Koexistenz zu erreichen, welcher
gekennzeichnet ist durch einen beidseitigen Prozess der Legitimierung,
des Ausgleichs, der Differenzierung und der Personalisierung sowie durch
neue Hoffnung und gegenseitige Akzeptanz. Im Kern bedeutet Koexistenz
eine Geisteshaltung, die von den Mitgliedern der Gesellschaft geteilt
wird. Um zu einer Koexistenz zu gelangen, ist es notwendig, das psychologische
Repertoire der Gesellschaften zu verändern, die in den Friedensprozess
involviert sind. Das Erreichen dieser Veränderung hängt zuallererst
ab von den Intentionen, den Aktivitäten, der Entschlossenheit und
der Stärke derer, die den Friedensprozess unterstützen: sowohl
unter Führungspersönlichkeiten als auch in politischen Parteien,
in den NGOs und bei einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft. Zum zweiten
hängt die erfolgreiche Etablierung eines Klimas der Koexistenz in
der Gesellschaft davon ab, inwiefern die gesellschaftlichen Institutionen
mobilisiert werden können, die neuen Botschaften des Friedensprozesses
zu verbreiten. Die Massenmedien und das Bildungssystem spielen bei dieser
Aufgabe eine wichtige Rolle.
Abschließend wird herausgearbeitet, dass eine ausstehende Veränderung
des psychologischen Repertoires dem Friedensprozess bislang entgegensteht.
Grundlegende Voraussetzungen dafür, um dies ändern/angehen zu
können, sind erstens Verhandlungen zwischen den Gegnern, welche die
Entwicklung einer beidseitig akzeptablen Übereinkunft ermöglichen,
und zweitens die Beendigung oder zumindest ein deutlicher Rückgang
aller Arten von Gewalt.
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Zum Autor:
Daniel Bar-Tal, Professor für Sozialpsychologie an der School of Education,
Direktor des Walter-Lembach-Instituts für jüdisch-arabische Koexistenz
durch Erziehung an der Universität Tel Aviv. Mitherausgeber des Palestine
Israel Journal. 1999-2000 Präsident der International Society of
Political Psychology. Seine Forschungsinteressen liegen in politischer und
Sozialpsychologie, die die psychologischen Grundlagen schwer lösbarer
Konflikte und von peace making untersucht. Aktuelle Buchpublikationen: Shared
Beliefs in a Society (Sage, 2000); Stereotypes and Prejudice in Conflict:
Representations of Arabs in Israeli Jewish Society (zusammen mit Yona Teichman;
Cambridge University Press, 2005); Patriotism: Homeland love (hrsg. zusammen
mit Avner Ben Amos, Hakibbutz Hameuhad, 2004, Hebräisch).
Adresse: School of Education, Tel Aviv University, Tel Aviv, 69978, Israel.
eMail: daniel@post.tau.ac.il
Website: www.tau.ac.il/education/homepg/bar-tal
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