conflict & communication online, Vol. 4, No. 2, 2005
www.cco.regener-online.de
ISSN 1618-0747

 

 

 

Projektgruppe Friedensforschung Konstanz (ed.), 2005. Nachrichtenmedien als Mediatoren von Peace-Building, Demokratisierung und Versöhnung in Nachkriegsgesellschaften. Berlin: verlag irena regener.

Die Medienberichterstattung über internationale Konflikte, Kriege und Bürgerkriege wird seit Jahrzehnten von der Wissenschaft begleitet, als wahrscheinlich bekannteste Vertreter seien hier Noam Chomsky und Johan Galtung genannt, die sich beide schon lange mit Nachrichtenmedien im allgemeinen und mit Konfliktberichterstattung im besonderen auseinandersetzen. Angefangen bei den Weltkriegen bis hin zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien und am Persischen Golf, die Diagnose fällt recht eindeutig aus: Konfliktberichterstattung tendiert dazu, mit fortschreitender Konfliktintensität zu vereinfachen, zu polarisieren, schwarz-weiss zu malen, kurz: sich in der Eskalationsdynamik des Konfliktes zu verfangen. Damit jedoch trägt die 'vierte Gewalt' ihrerseits zur Verschärfung von Konflikten bei.
So weit, so nicht gut. Seit ein paar Jahren wird ein Modell von Journalismus entwickelt, das diesen gut dokumentierten Tendenzen etwas entgegenzusetzen versucht: Friedensjournalismus, also der Versuch, Modelle, Formen und Praktiken deeskalationsorientierter Konfliktberichterstattung zu entwickeln und zu etablieren. Bald setzte Kritik ein: Friedensjournalismus sei ein allzu akademisches und realitätsfernes Projekt, man würde Journalisten wie auch Medienkonsumenten und -konsumentinnen damit überfordern, das würde kaum jemand produzieren und schreiben können und schon gar niemand kaufen und lesen wollen.

Friedensjournalismus - akademisch und realitätsfern?
Das vorliegende Buch der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz setzt hier an, es kann als der Versuch gelesen werden, derartige Kritik methodisch fundiert zu entkräften. Es fragt:

  • Stimmt das mit der Realitätsferne? Oder, lassen sich im Gegenteil Beispiele für deeskalationsorientierte Berichterstattung finden, konkrete Texte, die als 'friedensjournalistisch' bezeichnet werden können? Lassen sich solche Beispiele eventuell sogar schon avant la lettre finden, zum Beispiel in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, bevor die heutigen konkreten Vorstellungen von Friedensjournalismus ausformuliert wurden? Oder findet man solche Beispiele selbst dort nicht, wo man sie mit gutem Grund vermutet?
  • Stimmt die These der Überforderung der Medienkonsumenten und -konsumentinnen? Möchte das Publikum so vorgeblich kompliziertes, 'trockenes Zeug' wirklich nicht? Oder ist es ein Mythos, dass das Publikum nur (noch) einfache Botschaften in ansprechender Verpackung versteht? Wird das Publikum nicht etwa unterschätzt und wäre es nicht sehr wohl bereit und verständig, friedensjournalistisch geformte Texte zu lesen und zu akzeptieren?
  • Und wie steht es mit der Überforderung der Journalisten? Lassen sich, wie oben angedeutet, konkrete Beispiele von Friedensjournalismus finden, dann spricht das zunächst eher gegen die These der Überforderung der Journalisten; oder aber sind die heutigen Produktionsbedingungen der Nachrichtenmedien dergestalt, dass sich Friedensjournalismus nicht mehr in den Produktionsprozess integrieren lässt, schliesst der moderne Arbeitsalltag von Journalisten die Produktion deeskalationsorientierter Berichterstattung aus?

Nach-Kriegsberichterstattung im Fokus
Um diese Fragen angehen zu können, macht die Forschungsgruppe eine methodische Schwerpunktverlagerung: Nicht mehr Kriegsberichterstattung steht im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen, sondern Nach-Kriegsberichterstattung. Nach einem längeren (insbesondere militärischen) Konflikt ändern sich die mentalen Tiefenstrukturen nicht umgehend, die alten Feindbilder und Antagonien bleiben zunächst bestehen; aber, der Wind kann drehen, die Konfliktdynamik kehrt von Eskalation auf Deeskalation, Peace-Building, Demokratisierung und Versöhnung werden möglich und wollen journalistisch begleitet werden. Nachkriegsberichterstattung also als wahrscheinlicher Fundort von Beispielen für deeskalationsorientierten Journalismus, für Journalisten, die ihn produzieren, und für Medienkonsumenten und -konsumentinnen, die ihn akzeptieren.
So spürt Susanne Jäger in der bundesdeutschen Nach-Weltkriegs-Berichterstattung über Frankreich Beispielen deeskalationsorientierten Journalismus' nach, und findet diese auch - wenn auch in vergleichsweise geringem Ausmass. Aber es gibt sie, die Beispiele, und so gab es beispielsweise in den Endvierziger bis Sechziger Jahren in Deutschland zeitweise weniger Eliteberichterstattung, und mehr an strukturellen Themen und an Versöhnung mit der französischen Bevölkerung orientierten Journalismus. Jäger kommt deshalb zum Schluss, dass "Journalisten sehr wohl über das Instrumentarium einer solchen (deeskalationsorientierten; M.R.) Berichterstattung und über eine breite Palette an analytischen und rhetorischen Mitteln zu deren Umsetzung verfügen" (S. 279).
Die Presseberichterstattung in und über Jugoslawien nach Miloševic wird als weiterer wahrscheinlicher Fundort von Friedensjournalismus ins Blickfeld genommen. Ute Annabring und Susanne Jäger untersuchen dazu den Wandel des "Feindbildes Serbien" nach dem Sturz von Miloševic; Burkhard Bläsi, Susanne Jäger, Wilhelm Kempf, Margarita Kondopoulou und Dimce Paskoski unternehmen qualitative Vergleichsstudien deutscher, griechischer und serbischer Printmedien, und konzentrieren sich dabei darauf, konstruktive Aspekte des Nachrichtendiskurses zu identifizieren. Beide Studien erbringen Hinweise darauf, dass Medien in Nachkriegsgesellschaften differenziert, vielseitig und offen zu berichten vermögen - wobei das interessanterweise tendenziell mehr für die serbischen, als für die weniger direkt vom Konflikt betroffenen Medien in Deutschland und Griechenland gilt.

Experimentelle Rezeptionsforschung: "An die Leser denken"
Ein weiterer Schwerpunkt der Projektgruppe neben dem Auffinden und Dokumentieren konkreter Beispiele friedensjournalistischer Praxis ist die Rezeptionsforschung: Wie nehmen durchschnittliche Zeitungsleser und -leserinnen deeskalationsorientierte Berichterstattung auf? Akzeptieren sie sie mehr oder weniger als 'traditionell' produzierte Berichterstattung? Halten sie sie für mehr oder weniger glaubwürdig und attraktiv, und sind sie überhaupt motiviert und willens, Friedensjournalismus zu rezipieren?
Die Forschungsgruppe führte dazu eine experimentelle Rezeptionsstudie durch und liess die Probanden verschiedene Varianten von Zeitungstexten lesen und nacherzählen. Darüber hinaus kam ein Fragebogen zum Einsatz. Anhand der Daten vergleichen Burkhard Bläsi, Susanne Jäger, Wilhelm Kempf und Monika Spohrs die Glaubwürdigkeit und Attraktivität von eskalations- und deeskalationsorienterten Nachrichtentexten und kommen zum Schluss, dass "die Leserschaft friedensjournalistische Texte nicht nur genauso annehmen würde wie den bekannten Mainstream-Journalismus, sondern diese in einigen Aspekten sogar bevorzugen würde" (S. 234). Ute Annabring, Ruth Ditlmann und Wilhelm Kempf gehen dann einen Schritt weiter und untersuchen die Effekte, die die verschiedenen Formen von Berichterstattung auf die Konfliktwahrnehmung der Probanden haben. Dazu wurden die Nacherzählungen der Nachrichtentexte inhaltsanalytisch untersucht, wobei sich zeigte, dass sich eskalations- bzw. deeskalationsorientiertes Framing von Ereignissen tatsächlich auf die mentalen Konfliktmodelle der Probanden auswirkt. Kurz, Leser akzeptieren friedensjournalistische Texte, halten sie für glaubwürdig, sofern die Texte sich nicht zu weit von vorgängigen mentalen Modellen entfernen, und die Texte wirken sich entsprechend auf die Konfliktwahrnehmung der Leser aus.

Untersuchung der Produktionsbedingungen journalistischer Arbeit in Konflikten
Dass den Journalisten das notwendige Instrumentarium zur Produktion von deeskalationsorientierter Berichterstattung prinzipiell zur Verfügung steht, dass dieses Instrumentarium zumindest in Nachkriegszeiten zum Einsatz kommt, und dass Rezipienten diese Art von Berichterstattung akzeptieren können, wird also von der Projektgruppe nachgewiesen. Welcher Art sind jedoch die modernen "Produktionsbedingungen konstruktiver Konfliktberichterstattung", so der Titel eines weiteren Beitrags von Burkhard Bläsi? Bläsi hat dazu Journalisten und Journalistinnen zu ihrer Arbeit interviewt und die Ergebnisse mithilfe der Methode der Grounded Theory systematisiert. Ein weiteres Mal wird hier also dem Vorwurf der Realitätsferne begegnet, indem Bläsi - zum Teil auch vor Ort - diejenigen befragt, die friedensjournalistische Ansätze umzusetzen hätten.
Herausgekommen ist ein noch eher allgemeines Modell der Einflussfaktoren und der Produktionsbedingungen journalistischer Arbeit in Kriegszeiten. Bläsi leistet damit ein Stück Pionierarbeit, denn, wie er festhält, "mangelt es bislang (im Hinblick auf die Konfliktberichterstattung; M.R.) an umfassenderer Theoriebildung" (S. 257). Eine Fortsetzung und weitere Differenzierung seiner Arbeit wäre wichtig, damit realistische Implementierungsstrategien für friedensjournalistische Ansätze entwickelt werden können. In einer Beziehung fällt Bläsis Arbeit jedoch gewissermassen aus dem Rahmen, er fokussiert nämlich wieder mehr auf Kriegs- und Konfliktberichterstattung als auf NACH-Kriegsberichterstattung. Unter Umständen liessen sich jedoch im Rahmen der expliziten Untersuchung der Produktionsbedingungen von Nachkriegsberichterstattung weitere, eine deeskalationsorientierte Berichterstattung ermöglichende und fördernde Einflussfaktoren identifizieren.

Forschungsprogrammatische Fundierung und Abrundung
Abgerundet wird das vorliegende Buch durch drei Beiträge von Wilhelm Kempf, zwei davon zusammen mit Susanne Jäger. Kempf, der die Projektgruppe Friedensforschung Konstanz begründet hat und seit einigen Jahren leitet, gibt mit diesen Beiträgen einen umfassenden und aktuellen Überblick über das Forschungs- und Entwicklungsprogramm "Konstruktive Konfliktberichterstattung" und seine Einordnung in die academia, in die Sozialpsychologie einerseits, und in journalistische Arbeits- und Produktionsrealitäten andererseits. Einleitend stellt er dazu "Modelle des Friedensjournalismus" vor, um dann gemeinsam mit Jäger "Von der Theorie zur Empirie" zu führen. Beide zeigen am Ende des Buches "Grenzen und Möglichkeiten konstruktiver Nachkriegsberichterstattung" auf. Die Lektüre dieser drei Kapitel sei insbesondere denjenigen ans Herz gelegt, die sich nicht die Zeit nehmen können, das Buch von vorn bis hinten zu lesen.
An dieser Stelle sei dann auch der aus Sicht des Rezensenten einzige Kritikpunkt erlaubt: Die Lektüre des Buches gerät gelegentlich, insbesondere in den Ergebnisdarstellungen der Studien, ins Stocken, zu detailreich sind gelegentlich die Ausführungen, zu komplex die Darstellung der Ergebnisse (insbesondere die Lektüre von Ergebnissen von Latent-Class-Analysen erfordert höchste Aufmerksamkeit). Als gleichsam rettender Anker erscheinen zwar jedes Mal die zusammenfassenden Ergebnisinterpretationen; eventuell hätte sich jedoch angeboten, Teile der Ergebnisdokumentationen in einen separaten Anhang zu stellen.
Insgesamt jedoch sei das Buch rundum empfohlen: als Pflichtlektüre den auf diesem Gebiet tätigen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, als Einstieg, Überblick und Anregung zur Selbstreflexion den interessierten Journalisten und Journalistinnen. Der Vorwurf der Realitätsferne des Modells Friedensjournalismus wird hier sowohl methodisch als auch in den Ergebnissen insgesamt überzeugend zurückgewiesen. Und, hier wird Neuland betreten, weitere interessante Forschungsfragen schliessen sich umgehend an: Welche Rolle spielen neue Formen des Journalismus, z.B solche, die durch das Internet ermöglicht werden (z.B. 'Weblogs')? Wie verändern sich die von Bläsi dargestellten Produktionsbedingungen, sobald ein Journalist anfängt, friedensjournalistische Modelle umzusetzen? Oder aber, und besonders wichtig: Wie können die Ergebnisse in die Journalistenausbildung einfliessen? Die Projektgruppe Friedensforschung Konstanz hat hier noch viel vor sich. Was die Forschungsgruppe sich von Journalisten wünscht, kann ihr jedenfalls auch zugestanden werden: Originalität der (Forschungs-)Fragen, Kreativität, aber auch Solidität beim Einsatz der Methoden, und die wachsende Gewissheit, dass sie auf der richtigen Spur ist.

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Michael Reimann

 

     
 

Über den Autor: Michael Reimann, geb. 1966. Diplom in Psychologie (Universität Oldenburg, Deutschland, 1995); Diplom in Informationswissenschaften (Universität Konstanz, Deutschland, 2001). Seit 2001 Learning Software Designer beim International Relations and Security Network an der ETH Zürich (Schweiz); Autor verschiedener Artikel zur Medienberichterstattung über den Golfkrieg und den Bosnien-Konflikt.

Adresse: eMail: reimann@sipo.gess.ethz.ch

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