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Susanne Jaeger,
Nachrichtenmedien als Ressource für Frieden und Versöhnung.
Inhaltsanalytische Pressestudie zur westdeutschen Berichterstattung über
Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg. 2009. Berlin: regener.
"
Während Gewalt(anwendung) ganz klar negativ bewertet wird,
ist Frieden etwas Positives, daher langweilig, trivial, nicht berichtenswert"
Johan Galtung, 1998
Medien werden in Nachkriegsprozessen
oft mit Misstrauen beäugt. Sie scheinen ihr enormes Potenzial, konstruktiv
an Friedensprozessen mitwirken zu können, kaum umzusetzen. Im Gegenteil,
durch das Verfassen konfrontations-fördernder Berichte, das Verbreiten
negativer Informationen und Wecken falscher Erwartungen tragen Journalisten
teilweise sogar zur Eskalation von Konflikten bei.
Doch entspricht dieses pessimistische Bild tatsächlich der einzigen
Wahrheit? Welche Rolle kommt den Medien in längeren Friedensprozessen
zu und gelingt es ihnen, zumindest unter positiven politischen Bedingungen,
vielleicht auch einmal einen Friedensprozess konstruktiv zu begleiten?
Können Nachrichtenmedien Ressourcen für Versöhnung und
Frieden sein? Susanne Jaeger setzt sich mit diesen Fragen anhand des gelungenen
Friedensprozesses zwischen Deutschland und Frankreich nach dem zweiten
Weltkrieg auseinander.
Ihr Buch befasst sich mit zwei Fragen, die in methodisch unterschiedlichen
Teilen bearbeitet werden. Im ersten Teil des Buches untersucht die Autorin,
ob es Journalisten nach einem Krieg überhaupt möglich ist, über
den ehemaligen Gegner so zu berichten, dass Versöhnungsprozesse unterstützt
werden. Dabei stützt sie sich auf eine quantitative Inhaltsanalyse
der deutschen Berichterstattung über Frankreich von 1946 bis 1970
in fünf westdeutschen Zeitungen (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter
Rundschau, Die Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Südkurier).
Sie untersucht eine Stichprobe von 1750 Texten, die für alle Artikel
über Frankreich einschließlich Kommentaren, Rezensionen, Reiseberichten
oder Sportnachrichten repräsentativ sind. Im zweiten Teil behandelt
sie die Frage, wie eine Frieden und Versöhnung fördernde Berichterstattung
aussieht. Sie sucht nach Beispielen deeskalationsorientierter Berichterstattung,
um deren inhaltliche und stilistische Umsetzung darzustellen. Dabei stützt
sie sich auf eine qualitative Inhaltsanalyse von 28 Artikeln, die sie
aus der ursprünglichen Stichprobe als besonders exemplarisch für
eine Versöhnung fördernde Berichterstattung auswählt.
Als theoretischer Rahmen für die quantitative Inhaltsanalyse dient
der Autorin das Nachrichtenfaktorenmodell von Galtung & Vincent (1992).
Demzufolge orientieren sich Journalisten in der Auswahl von Themen für
die Berichterstattung an sogenannten Nachrichtenfaktoren. Je mehr davon
auf ein Ereignis zutreffen, desto eher wird über dieses berichtet.
Jaeger kodierte ihr Textmaterial hinsichtlich folgender dreier Nachrichtenfaktoren:
(1) Person versus Struktur ("ein Thema behandelt einzelne Personen
als Individuen versus Prozesse oder Ereignisse, die Gruppen und Strukturen
betreffen"), (2) Elite versus Non-Elite ("ein Thema behandelt
die herrschende Klasse oder Frankreich als politisches Gebilde versus
Personen mit geringem Einfluss oder Frankreich als soziales, kulturelles
Gebilde") und (3) positiv versus negativ ("Themen, bei denen
die Betroffenen wohlwollend dargestellt werden oder Nutzen und Erfolg
haben versus Themen, bei denen die Betroffenen missgünstig dargestellt
werden und Schaden und Misserfolg haben "). Ereignisse mit einer
geringen Ausprägung eines Nachrichtenfaktors finden nur dann ihren
Weg in die Berichterstattung, wenn dies durch eine besonders starke Ausprägung
eines anderen Faktors kompensiert wird. Ereignisse, die Bevölkerungsgruppen
wie z.B. französische Jugendliche betreffen, sollten demnach besonders
dann in der Berichterstattung auftauchen, wenn sie negativ sind. Die Hypothesen
für die quantitative Inhaltsanalyse waren demnach, dass negative
Berichte, Berichte über Eliten und über Personen vorherrschen
würden.
Erwartungsgemäß ist die Berichterstattung über Frankreich
insgesamt von einem Schwerpunkt auf Eliten geprägt. Wider Erwarten
bestätigt sich jedoch weder der Schwerpunkt auf Personalisierung
noch auf Negativität. Stattdessen berichten Journalisten häufig
über Strukturen und positive Ereignisse, wie zum Beispiel den deutsch-französischen
Jugendaustausch. Auch die Komplementaritätshypothese bestätigt
sich nur teilweise. Zwar berichten Journalisten häufig negativ über
"gewöhnliche" Franzosen und positiv über Prominente.
Entgegen der Hypothese berichteten sie jedoch auch häufig negativ
über Elite-Strukturen, zum Beispiel den französischen Staatsapparat,
und positiv über Non-Elite-Strukturen, zum Beispiel die französische
Bevölkerung.
Es zeigt sich also ein positives Interesse an einzelnen Prominenten und
der französischen Bevölkerung und ihren Institutionen. Gleichzeitig
besteht jedoch eine gewisse Reserviertheit gegenüber dem französischen
Staat. Über einzelne Franzosen wird nur berichtet, wenn sie durch
negative Handlungen oder Schicksalsschläge auffallen.
Im Zeitverlauf von 1946-1970 zeigt sich ein deutlicher Einfluss der Besatzungssituation
und der damit verbundenen ökonomischen und politischen Restriktionen
in der frühen Berichterstattung. Nach der Besatzungszeit häufen
sich Frankreich betreffende Artikel und werden außerdem inhaltlich
vielseitiger. Weiterhin sind Elite-Themen rückläufig, während
Personen und Non-Elite-Themen zunehmen. Die Beschreibung von Eliten wird
deutlich negativer, die Protagonisten werden komplexer beschrieben. Diese
Trends begünstigen eine zunehmend persönliche Wahrnehmung der
französischen Gesellschaft und eine differenzierte Auseinandersetzung
mit französischen Eliten. Gleichzeitig deutet die durchgängige
Beschreibung von Non-Eliten als positive Akteure auf eine eher oberflächliche
Auseinandersetzung mit der französischen Bevölkerung hin. Dennoch
zieht Jaeger die Schlussfolgerung, dass der wesentliche Beitrag der deutschen
Presseberichterstattung zum deutsch-französischen Aussöhnungsprozess
im Wecken von Bewunderung für die französische Lebensart und
im Appellieren an eine gemeinsame Basis in der Bevölkerung jenseits
von Politik liegt. Es sei Nachrichtenmedien nach einem Krieg also möglich,
über den ehemaligen Gegner so zu berichten, dass Versöhnungsprozesse
unterstützt werden.
Im zweiten Teil ihrer Arbeit befasst sich die Autorin intensiv mit einer
kleinen Auswahl von Artikeln, die exemplarisch für eine anscheinend
durchaus vorhandene konstruktive Berichterstattung sind und die aufzeigen
sollen, wie eine konstruktive Berichterstattung aussieht. Als theoretischer
Rahmen für die qualitative Inhaltsanalyse dient der Autorin das Schema
von Kempf (1996) zur Untersuchung von Eskalations- und Deeskalationsorientierung
in der Konfliktberichterstattung. Dieses Modell beschreibt Prozesse der
Eskalation und Deeskalation auf mehreren, relevanten Ebenen menschlichen
Denkens und Handelns (Konzeptualisierung, Interessen, Rechte und Ziele,
Emotionen, soziale Identifikationen). Dabei geht es der Autorin vor allem
darum, die theoretisch hergeleiteten Deeskalationsmerkmale inhaltlich
auszugestalten.
Bei der Auswahl von Material für die qualitative Analyse stößt
Jaeger auf eine Vielzahl von Berichten über positive Themen und Ereignisse,
die eindeutig deeskalationsorientierte Merkmale aufweisen. Initiativen
zur Verbesserung des deutsch französischen Verhältnisses wurden
zum Beispiel regelrecht gefeiert. Besonders in Artikeln über die
Annäherung zwischen der deutschen und der französischen Gesellschaft
und über Land, Leute und Lebensstil in Frankreich findet die Autorin
viele deeskalationsorientierte Merkmale.
Beispielsweise können Artikel über das Leiden von Franzosen
im Krieg Empathie wecken und Artikel über Freundschaft und Austausch
Berührungsängste abbauen.
Konstruktive Texte über Krisen und Konflikte sind seltener als über
positive Ereignisse, deeskalationsorientierte Merkmale finden sich jedoch
durchaus auch in solchen Berichten.
So ermöglichen Journalisten durch neutrale Berichte über Kriegsprozesse
eine Auseinandersetzung mit dem von Deutschen begangenem Unrecht. In Artikeln
über Frankreich als Partner oder Konkurrent in Wirtschaft und Politik
stärken Journalisten überstaatliche Bündnisse durch die
Begeisterung, die sie darüber zum Ausdruck bringen. Oft finden sich
in solchen Texten neben deeskalationsorientierten Merkmalen auch eskalationsorientierte.
In der Tat setzten Journalisten deeskalationsorientierte Merkmale oftmals
so ein, dass ihr konstruktives Potenzial abgeschwächt und sogar umgekehrt
wird. So werden Artikel über die französische Wahrnehmung der
westdeutschen Politik, die durch eine Auseinandersetzung mit der gegnerischen
Perspektive Vertrauen schaffen könnten, stattdessen oftmals eingesetzt,
um die deutsche Position zu stärken. Ähnlich fördern Artikel
über den Schaden, den die Deutschen in ihrer Vergangenheit angerichtet
haben, zwar teilweise eine Identifikation mit den Opfern, bieten den Lesern
aber gleichzeitig die Möglichkeit zu einer Distanzierung von den
Tätern ("den Nationalsozialisten") und erleichtern dadurch
das Abstreifen von Verantwortung.
Die wichtigste Schlussfolgerung von Jaegers qualitativer Studie ist, dass
deeskalationsorientierte Berichterstattung auf jeden Fall möglich
ist und in vielfältiger Weise umgesetzt werden kann. Zwar finden
sich auch eskalationsorientierte Merkmale, vor allem in deutschen Berichten
über Krisen und Konflikte, allerdings hinterfragen diese Texte nie,
ob irgendwann eine Einigung erzielt wird. Französische Interessen
werden stets ernst genommen.
Der beachtliche Beitrag von Jaegers zweiteiliger Studie liegt darin, aufzuzeigen,
dass ein Versöhnungsprozess konstruktiv medial begleitet werden kann
und wie das im Detail und an ganz konkreten Beispielen aussieht. Die einzigartige
Kombination von quantativer und qualitativer Methodik erlaubt es der Autorin,
einerseits das Nachrichtenfaktorenmodell systematisch zu testen und andererseits
neue Hypothesen zu generieren. Der quantitative Teil deutet auf konkrete
Rahmenbedingungen für Galtung & Vincents Modell hin, die, bis
zu ihrer Falsifikation, durchaus auch auf andere Friedensprozesse zutreffen
mögen. Solche Rahmenbedingungen sind zum Beispiel die militärische
und politische Besatzung durch die gegnerische Nation und Zusammenstellung
und Auswahl der Journalisten ebenso wie die gemeinsame Vergangenheit der
Gegner, ihre kulturelle Nähe sowie Kooperationsanreize für beide
Länder. Der qualitative Teil verleiht den quantitativen Variablen
teilweise eine neue Bedeutung. So kann zum Beispiel ein positives Berichten
über französische Politiker zur Untermauerung und Verhärtung
der eigenen Position im Hinblick auf die deutsche Wiederaufrüstung
genutzt werden. Außerdem wird der qualitative Teil der Vielschichtigkeit
des Textmaterials gerecht und zeigt, dass Elemente von Nachkriegsberichterstattung
konstruktiv und gleichzeitig auch destruktiv sein können. Dies trifft
zum Beispiel auf die vielen positiven Berichte über Land und Leute
zu, die einerseits Identifikationsmöglichkeiten schaffen und Begeisterung
wecken, anderseits jedoch Vorurteile und unrealistische Erwartungen schüren.
Der Leser kann auf jeden Fall eine Aussage von größter praktisch
und politischer Relevanz von Jaegers Arbeit ableiten: Unter günstigen
politischen Bedingungen sind zumindest manche Journalisten zu konstruktiver
Berichterstattung fähig und setzen, scheinbar intuitiv, Techniken
ein, die sich in sozialpsychologischen Modellen fundieren lassen. Frieden
ist also durchaus berichtenswert.
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Ruth
Ditlmann
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