conflict & communication online, Vol.16, No. 1, 2017
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ISSN 1618-0747

 

 


Editorial

 

 

 

Fünfzig Jahre nach dem Sechstagekrieg besteht mehr denn je seit Scheitern des Oslo-Prozesses ein dringendes Bedürfnis nach einem offenen Diskurs, der die Rechte beider Gesellschaften anerkennt und um einen Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern bemüht ist.
Wie jeder eskalierte Konflikt geht jedoch auch der israelisch-palästinensische mit kompetitiven Fehlwahrnehmungen (Deutsch 2000) einher, die sich in lang andauernden Konflikten zu gesellschaftlichen Grundüberzeugungen verdichten, die u.a. durch den Glauben an die Gerechtigkeit der eigenen Sache und an die eigene Opferrolle sowie durch den Glauben an die Aufrechterhaltung von persönlicher und nationaler Sicherheit durch eine Politik der Stärke geprägt sind (Bar-Tal 1998). Dies findet – völlig spiegelbildlich – auf beiden Seiten statt: Woran die eine Seite glaubt, wird von der anderen strikt zurückgewiesen (Kempf 2015) und als Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelmoral empfunden.
Um es mit den Worten des israelischen Schriftstellers David Grossmann (2014) auszudrücken, verläuft die Trennlinie aber nicht mehr zwischen Juden und Arabern, sondern zwischen all jenen, die in Frieden leben wollen, und denjenigen, die ideologisch und emotional auf Gewalt setzen.
Dass pro-israelische Hardliner die drei Ds daher auch den Friedenskräften zum Vorwurf machen, kann kaum überraschen, zumal die israelische Besatzungspolitik immer mehr an Zustimmung verliert. Selbst unter amerikanischen Juden finden sich nur ca. 8% bedingungslose Unterstützer von Netanjahus Politik (Ben-Ami, 2011), 60% der Juden in der Diaspora glauben nicht daran, dass seine Regierung sich wirklich um Frieden mit den Palästinensern bemüht (Goldmann, 2015), und die von vielen Juden auf der ganzen Welt (einschließlich Israel) mitgetragene Boycott, Divestment & Sanctions (BDS) Bewegung gegen die israelische Occupartheid [1] könnte, den israelisch-palästinensischen Konflikt verändern „wenn der Diskurs von Begriffen wie Stärke und Widerstandsfähigkeit auf die Ebene von Rechten und Werten wechselt“ (Burg 2014).
Dass die Verfechter der israelischen Palästinapolitik dem nichts anderes entgegenzusetzen wissen als ihre eigene Doppelmoral, mag Ausdruck von Hilflosigkeit sein. Seit der Vorsitzende der Jewish Agency, Natan Sharansky die drei Ds aber mit dem Label des Antisemitismus versehen hat, tritt zu ihnen ein viertes D hinzu: die Denunziation derer, die für eine Friedenslösung in Israel/Palästina eintreten. Eine Denunziation, deren Mittel von A wie Angriff auf Demokratie und Meinungsfreiheit quer durchs deutsche Alphabet über F wie falsche Behauptungen, R wie Rufmord und V wie Verleumdung bis Z wie Zerstörung des Urteilsvermögens reichen, zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Kritik der israelischen Politik unterscheiden zu können. Eine Denunziation, die jegliche – auch noch so kleine – Abweichung von den eigenen Glaubenssätzen als antisemitisch brandmarkt, die Einsicht in bestehende Unrechtsverhältnisse auf dem Wege der moralischen Ablösung (Bandura 1999) abwehrt und aus antisemitischen Ressentiments Kapital schlägt um Kritik an der Occupartheid zum Schweigen zu bringen – namentlich aus dem quer durch alle Gesellschaftsschichten verbreiteten Glauben an die Macht des Judentums und dem nicht nur unter antisemitischen Feinden Israels, sondern auch unter den radikalen Unterstützern seiner Politik (sic!) virulenten Wunsch nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit (vgl. Kempf 2015).
Pars pro toto für diese Denunziationspraxis dokumentieren wir in diesem Heft von conflict & communication online einige Vorfälle, die sich im zweiten Halbjahr 2016 in Deutschland ereignet haben:

  • Eine Chronik des Heidelberger Verbotes einer Ausstellung von Kinderzeichnungen aus Gaza und den besetzten Gebieten,
  • die Kündigung des Bankkontos des Vereins Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost durch die Bank für Sozialwirtschaft, sowie
  • ein anonymes (sic!) Flugblatt, das anlässlich eines Vortrages von Rolf Verleger über Ergebnisse des Anti-Semitism and the Criticism of Israel (ASCI) Surveys an der Universität Freiburg verteilt wurde, und
  • ein weiteres Flugblatt, das anlässlich eines Vortrages von Rolf Verleger über das von ihm mitbegründete Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung an der Universität Marburg kursierte.

Außerdem setzen wir Links auf zwei Texte, sie sich mit der Pressekampagne gegen das palästinensische Kulturfestival After the Last Sky im Berliner Ballhaus Naunynstraße auseinandersetzen:

  • auf einen Blog der jüdischen Feministin Inna Michaelis im +972 Magazin, und
  • einen offenen Brief israelischer und jüdischer Kulturschaffender in Berlin, der auf der Website der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost erschienen ist.

Dass sich Antisemitismus in Form von Antizionismus artikulieren kann, der die Juden kollektiv für die Politik Israels haftbar macht (Bergmann 2002), und dass Kritik an der israelischen Palästinapolitik als ein Medium benutzt werden kann, um das Kommunikationstabu für antisemitische Einstellungen zu umgehen, wurde von der Antisemitismusforschung schon früh erkannt (vgl. Bergmann & Erb 1991). Laut Ergebnissen des ASCI-Surveys (Kempf, 2015) [2] waren 2010 ein Viertel der Deutschen als antisemitische Israelkritiker einzustufen, bei denen antisemitische und islamfeindliche Einstellungen miteinander Hand in Hand gehen, und deren (scheinbare) Parteinahme für die Palästinenser ihnen letztlich nur als Mittel dient, „das wahre Gesicht der Juden“ zu entlarven, und ein weiteres Zehntel der Befragten vermied es, sich zur israelischen Politik zu positionieren „weil man ja nicht sagen darf, was man über die Juden wirklich denkt“.
Immerhin vier von zehn Deutschen kritisierten die israelischen Politik aber deshalb, weil sie für die Universalität der Menschenrechte eintreten, Antisemitismus und Islamophobie gleichermaßen ablehnen und sich gegen eine Politik wenden, die nicht nur den Palästinensern Unrecht antut, sondern auch Israel von innen heraus zu zerstören droht. "Wenn wir die Situation belassen, wie sie ist“, schreibt Etgar Keret  (2013), „ohne den Menschen, die unter unserer Besatzung leben, eine Lösung anzubieten, wird das letztlich unser Land zugrunde richten".
Der kleinen aber umso lautstärkeren Minderheit, welche die Politik Netanjahus vorbehaltlos unterstützt, sind solche Bedenken freilich fremd und die Denunziation kritischer Stimmen ein willkommenes Mittel, um Juden in und außerhalb Israels weiszumachen, immer und überall nur von Antisemiten umgeben zu sein. In Israel selbst war diese Strategie schon bisher hinreichend erfolgreich, um Netanjahu immer wieder eine Regierungsmehrheit zu verschaffen. Um auch in der Diaspora wieder Boden zu gewinnen, muss eine differenzierte und empirisch fundierte Sichtweise der Gründe, warum Menschen der israelischen Politik kritisch gegenüberstehen, zugunsten ideologischer Konstruktionen ausgeblendet werden. Die Realität der Occupartheid und ihre traumatischen Folgen dürfen nicht bekannt werden, den Friedenskräften muss die Handlungsgrundlage entzogen werden, und – als Voraussetzung für dies alles – muss jede Wahrnehmung von Palästinensern jenseits von Terrorismus und/oder (zumindest) radikalem Aktivismus mit aller Macht verhindert werden.
Diese bittere Erfahrung mussten auch die Kuratorinnen des Festivals After the Last Sky in Berlin machen. In einer Stadt, von der mal jemand gesagt hat, dass sie das größte palästinensische Flüchtlingslager außerhalb des Nahen Ostens sei, wurden Palästinenser erstmals sichtbar. Nicht als Araber, Muslime, Migranten oder welches andere Klischee man auf sie anwenden mag, sondern als Menschen und als Kulturschaffende, die einen Vergleich mit der internationalen zeitgenössischen Kulturszene nicht zu scheuen brauchen: als Musiker, Tänzer, Theatermacher und Filmemacher u.s.w..
Sichtbar machen, sichtbar werden, sichtbar sein. Das war das große Generalthema des Festivals. Sichtbarkeit hat auch mit Selbstbewusstsein und gegenseitigem Respekt zu tun. Dazu hat auch das Publikum – Palästinenser, Deutsche, auch Juden und Israelis – beigetragen, von disziplinierten Diskussionen mit den Künstlern und dem Ausbleiben jeglichen Versuches, das Festival zu agitatorischen Zwecken zu missbrauchen bis hin zu scheinbaren Äußerlichkeiten: Eine solche Ansammlung von kultivierten und gut gekleideten Leuten wie beim Eröffnungskonzert sieht man in Berlin höchstens einmal in der Staatsoper oder in der Philharmonie.
Natürlich war das Festival nicht unpolitisch. Wie könnte es auch? Dass die palästinensische Gegenwartskultur von den Erfahrungen der Vertreibung und (fast) einem halben Jahrhundert des Lebens unter Besatzung nicht unberührt geblieben ist, kann kaum überraschen. Aber sie kann auch nicht darauf reduziert werden, und das ist eines der Dinge, die man als Besucher des Festivals lernen konnte.
Und eben dies ist es auch, was sich nicht herumsprechen darf, wenn die Kultur der Gewalt in Israel/Palästina weiterhin Unterstützung finden oder zumindest widerspruchslos hingenommen werden soll. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass in den (Berliner) Medien kaum über das Festival berichtet wurde. Erst als es vorbei war, wurde es im Tagesspiegel vom 20.10.2016 als Stelldichein radikaler Aktivisten verunglimpft, die Senatsverwaltung, die das Festival gefördert hatte, unter Druck gesetzt und den Kuratorinnen des Festivals unterstellt, dass sie das Existenzrecht Israels negieren. Die Berliner Zeitung, die die Anschuldigungen Tags darauf ungeprüft übernahm, ging noch einen Schritt weiter, indem sie das Festival in Zusammenhang mit judenfeindlichen Parolen auf Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg 2014 brachte.
Einer Nachprüfung haben die angeblichen antisemitischen Äußerungen, die auf dem Festival gefallen sein sollen, freilich nicht standgehalten. Die Kuratorinnen des Festivals erwirkten eine einstweilige Verfügung des Berliner Landgerichts, aufgrund derer der Tagesspiegel seinen Artikel im Internet löschen musste, und im Feuilleton der Berliner Zeitung erschien am 28.10.2016 eine kurze Meldung „Keine antisemitischen Sätze im Ballhaus“. Doch das Gerücht war schon einmal auf den Weg gebracht. Und mehr als eines Gerüchtes hat es zur Dämonisierung und Delegitimierung der politisch anders Denkenden noch nie bedurft. Dies umso mehr, als die vom Tagesspiegel in die Welt gesetzte Verleumdung des Festivals und seiner Kuratorinnen bis Ende Oktober 2016 in ca. 50 Artikeln anderer Medien weiter verbreitet worden ist. Alle diese Artikel können noch heute im Internet abgerufen werden.

Berlin, im April 2017

Wilhelm Kempf

Anmerkungen
[1] Definiert als Diskriminierung zwischen Bevölkerungsgruppen auf Grundlage der ethnischen Herkunft als Ergebnis einer dauerhaften Besatzung die der unter Besatzung lebenden Bevölkerung politische und ökonomische Rechte verweigert (Bar-Tal 2015).
[2] In Monaten Juni bis November 2010 – also unmittelbar nach dem Ship-to-Gaza-Zwischenfall – durchgeführt, fiel die Datenerhebung des ASCI-Surveys in einen Zeitraum, während dessen die öffentliche Meinung gegenüber Israel besonders kritisch war. Selbst wenn sich die Baseline der verschiedenen Spielarten von Unterstützung vs. Kritik der israelischen Politik inzwischen noch weiter zu Ungunsten Israels verschoben haben sollte, dürften die vom ASCI-Survey identifizierten Größenordnungen daher auch heute noch aktuell sein.

Literatur
Bandura, A. (1999). Moral disengagement in the perpetration of inhumanities. Personality and Social Psychology Review, 3, 193-209.
Bar-Tal, D. (1998). Societal beliefs in times of intractable conflict: The Israeli case. The International Journal of Conflict Management 9(1), 22-50.
Bar-Tal, D. (2015). "Love your neighbor as yourself". Documentation of an open letter by Prof. Daniel Bar-Tal, Tel Aviv University, Israel. conflict & communication online 14/1.
Ben-Ami, J. (2011). A new voice for Israel. Fighting for the survival of the Jewish nation. New York: palgrave macmillan.
Bergmann, W. (2002). Geschichte des Antisemitismus. München: Beck.
Bergmann, W. & Erb, R. (1991b). Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland: Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946-1989. Opladen: Leske + Budrich.
Burg, A. (2014). Was ist falsch an Boykotten und Sanktionen? Der Standard, 17.2.2014. http://derstandard.at/1389860609752/Was-ist-falsch-an-Boykotten-und-Sanktionen (Download 20.2.2014).
Deutsch, M. (2000). Cooperation and competition. In: Deutsch, M. & Coleman, P. T. (Eds.), The handbook of conflict resolution. Theory and practice. San Francisco: Jossey-Bass, 21-40.
Goldmann, A. (2015). Diaspora unzufrieden mit Israel. Mehrheit der Juden bezweifelt, dass Jerusalem sich ausreichend um Frieden mit Palästinensern bemüht. Jüdische Allgemeine vom 3.8.2015.
Grossmann, D. (2014). Erinnern wir uns an die Zukunft. TagesAnzeiger vom 4.8.2014. http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/diverses/Erinnern-wir-uns-an-die-Zukunft/story/10216028 (Download 24.11.2014).
Kempf, W. (2015). Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee. Eine Spurensuche. Berlin: verlag irena regener.
Keret, E. (2013). Die Besatzung frisst unsere Seele. Interview mit Frankfurter Rundschau vom 16.2.2013. http://www.fr-online.de/panorama/interview-israelischer-autor-die-besatzung-frisstunsere-seele,1472782,21823400,view,asFirstTeaser.html (Download 3.2.2014).


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