conflict & communication online, Vol. 16, No. 1, 2017
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ISSN 1618-0747

 

 

 

Wolfgang Benz (2015). Antisemitismus: Präsenz und Tradition eines Ressentiments. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
ISBN 978-3-7344-0104-6, 254 S., 14.80 €..

Im vorgelegten Buch fasst der Historiker Wolfgang Benz, der bis 2011 an der TU Berlin lehrte und das Zentrum für Antisemitismusforschung leitete, „Arbeitsergebnisse und Erkenntnisse aus langjähriger Beschäftigung mit dem langlebigsten Vorurteil der menschlichen Geschichte und den Folgen der daraus erwachsenen Katastrophe des Judenmords“ zusammen.
Beginnend mit der Darstellung des Holocausts und seiner Nachwirkungen im 20. Jahrhundert, konfrontiert Benz sein Publikum eindrucksvoll und detailtreu mit der Kulmination der Jahrhunderte langen Judenfeindschaft. Während sich diese aus unterschiedlichen Motiven – „religiösem Ressentiment, kulturellem Vorbehalt, ökonomischer und sozialer Ausgrenzung, rassistischem Hass“ – und mithilfe von „Stereotypen, Legenden, Unterstellungen und Schuldzuweisungen“ entwickelt hat, bleibt Judenfeindschaft auch im 21. Jahrhundert ein gemeinsamer Nenner von unterschiedlichen Formen des Antisemitismus. Als Historiker leistet Benz seinen Beitrag für das bessere Verständnis dieses Prozesses, in dem er die Entwicklung der Judenfeindschaft in Verbindung mit Religion, Rasse und gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa von der Antike bis zu Neuzeit nachzeichnet. Er analysiert mehrere Legenden und Erzählungen, die zwischen 13. und 19. Jahrhundert zur Begründung aggressiver Judenfeindschaft verbreitet wurden, und geht somit auf die Wurzeln des Ressentiments gegenüber Juden ein. So gehörten zum Beispiel Ritualmordlegenden zum Instrumentarium der Judenfeindschaften, die der Stigmatisierung der Juden als Fremde dienten und auf die Ausgrenzung der Juden aufgrund ihres Glaubens zielten. Einzelne Geschichten wurden so lange und so lebhaft reproduziert, dass sie bis in die NS-Propaganda instrumentalisierbar und wirkungsmächtig blieben. Das Besondere an diesem Teil des Buches ist, dass Benz häufig Auszüge aus historischen Originaltexten in seinen Text einbaut. So können die Leserinnen und Leser selbst nachlesen, wie die öffentliche Meinung durch bösartige judenfeindliche Vorurteile, Unterstellungen und Schuldzuweisungen kontinuierlich und nachhaltig vergiftet wurde.
Aufbauend auf den historischen Diskurs über Entstehung und Entwicklung der Judenfeindschaft bis zum 20. Jahrhundert, beschäftigt sich Benz mit der Analyse des Antisemitismus in der Weimarer Republik und während der beiden Weltkriege. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die antijüdischen Vorbehalte in Deutschland neu aufgeladen. Die pauschalen Schuldzuweisungen, dass Juden sich „als Kriegsgewinnler an der Not des Vaterlandes bereicherten“, hatten trotz einer Aufklärung über den Einsatz der deutschen Juden im Weltkrieg lang anhaltende Wirkung. So wurden die Juden infolge der militärischen Niederlage und des verletzten deutschen Nationalstolzes zu Schuldigen gemacht. Auch wenn die deutschen Juden zu dieser Zeit kulturell assimiliert waren, begann der Prozess ihrer sozialen Dissimilation. Antisemitische Agitationen nahmen rasch Anlauf und resultierten 1922 in dem Mord an Außenminister Rathenau und Attentaten auf andere demokratische Politiker jüdischer Herkunft.
Als NSDAP 1933 zur Macht kam, war Antisemitismus Staatsziel. Zahlreiche Pamphlets, Ausstellungen und Filme widmeten sich fleißiger judenfeindlicher Propaganda. Ritualmordlegenden, die Vorstellung eines einflussreiches „Weltjudentums“ und die Überzeugung vom kriminellen Charakter „der Juden“ wurden „in monotoner Obsession“ verkündet. Eine Reihe von rassistisch motivierten gesetzlichen Maßnahmen machte die Emanzipation der Juden rückgängig, verschlechterten den rechtlichen Status der deutschen Juden gravierend und bereiteten den Weg zur physischen Vernichtung der Minderheit. Mit dem Novemberpogrom 1938 endete die Phase der Drangsalierung und Demütigung und Begann die Phase der Vertreibung und Vernichtung der Juden. Bis zum Zweiten Weltkrieg ist die Ideologie der Judenfeindschaft zur Staatsdoktrin des nationalsozialistischen Deutschlands geworden. Die angekündigte Drohung einer „Lösung der Judenfrage“ wurden zielsicher wahr gemacht. Von rund einer halben Million Juden, die in Deutschland vor der NS-Zeit gelebt haben, konnten etwa 270 000 Menschen zwischen 1933 und 1945 auswandern; etwa 165 000 deutsche Juden wurden in den Konzentrationslagern ermordet. Ungefähr 15 000 überlebten die Katastrophe außerhalb der Konzentrationslager. Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 schien, unmöglich zu sein.
Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes 1945, dem Entsetzen über den Völkermord an insgesamt sechs Millionen Juden Europas und der Gründung des Staates Israel 1948 ist der Antisemitismus keineswegs verschwunden. Mit großer Sorgfalt beschreibt Benz politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland und die Nachwirkungen des Holocausts. Parallel zu christlichem Antijudaismus und dem Rassenantisemitismus entstanden weitere Formen des Antisemitismus wie z. B. sekundärer Antisemitismus als „Reflex auf den Holocaust“ und Antizionismus als „Schlachtruf gegen Israel“. Ausprägungen eines sekundären Antisemitismus sind u.a. „die Leugnung oder Marginalisierung des Holocaust“, „die Suche nach Schuld oder Mitschuld der Juden“, „das Verlangen nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit oder die Unterstellung, dem Entschädigungsbegehren der Holocaustopfer lägen materielle oder machtpolitische Motive zu Gründe“. Antizionismus ist hingegen ein Phänomen, das von Linken als Ressentiments gegen Juden verbunden mit Antiamerikanismus sowie von Islamisten als kulturelles Ressentiment verbunden mit politischer Verweigerung des Existenzrechts des Staats Israel artikuliert wird. Benz geht systematisch auf die Zusammen- und Wechselwirkungen zwischen linkem Antisemitismus und Antizionismus, Israelkritik und Antisemitismus sowie auf die Judenfeindschaft von Muslimen und Holocaustleugnern ein und rundet sein Buch mit Strategien zur Bekämpfung der Judenfeindschaft und Erläuterungen der Wege der Antisemitismusforschung ab.
Klar wird, dass es viele historische Interpretationen, Theorien und Erklärungsmodelle gibt, um das komplexe Phänomen des Antisemitismus zu verstehen. Die Erkenntnisse daraus sollen sich allerdings nicht auf „den engeren Gegenstand der Feindschaft gegen Juden“ beschränken, sondern paradigmatisch dafür genutzt werden, die Problematik von Vorurteil und Diskriminierung, Ausgrenzung von Minderheiten, Kulturrassismus und Xenophobie im Kontext der gegenwärtigen Migrationsprozesse und der Neuformierung der Gesellschaften zu verstehen. Der Beitrag von Benz dafür ist unentbehrlich.

Irina Volf

 

     
 

Über die Autorin: Irina Volf erwarb den Titel eines Dr. rer. soc. in Psychologie an der Universität Konstanz (Deutschland). Zur Zeit arbeitet sie als Forscherin am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main. Ihr gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Gebiet der Evaluation von Gesetzen und Programmen im Bereich der sozialen Arbeit.
eMail: wolf.irina@gmail.com.

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