conflict & communication online, Vol. 17, No. 1, 2018
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ISSN 1618-0747

 

 

 

Gilles Kepel (2017). Der Bruch: Frankreichs gespaltene Gesellschaft. München: Verlag Antje Kunstmann.
ISBN 978-3-956141-88-1.

Gilles Kepel ist ein Soziologe, Islamwissenschaftler und Orientalist. Er ist auch eine der ersten Personen, die den Begriff Islamismus in akademischen Diskurs im europäischen Raum eingeführt und nachhaltig geprägt haben. In seinem Buch vom Jahr 1985 über muslimische Extremisten in Ägypten nahm er Abstand vom Wort „Fundamentalismus“. Dieses Wort suggeriere etwas Extremes, Voreingenommenes und Abwertendes. Stattdessen nutze er das französische „islamiste“, um zwischen mainstream Muslimen und einer auf Islam aufgebauten politischen Ideologie zu unterscheiden (Kramer nach Volf 2011, 34). Dreißig Jahre später stellt Kepel Dschihadismus der dritten Generation mit einem besonderen Augenmerk auf Frankreich in den Mittelpunkt seiner Arbeit. In seinem im Frühjahr 2017 erschienenen Buch teilt Kepel seine profunden Kenntnisse und sein tiefes Verständnis für komplexe Entwicklungen in den Gesellschaften des Mittel Ostens und setzt verschiedene politische Entwicklungen sowie eine Reihe islamistischer Terrorangriffe im Europäischen Raum miteinander in Beziehung.
Neben einem Vorwort zur deutschen Ausgabe, einem zusammenfassenden Prolog und einem analytischen Epilog besteht das Buch im Kern aus Radiobeiträgen und Kommentaren des Autors, die unmittelbar nach konkreten Ereignissen im Zeitraum zwischen September 2015 und Juli 2016 aufgenommen wurden. Damals hat Kepel keine vorgefertigten Texte vorgelesen, sondern spontan auf die Fragen des Senders France Culture reagiert und versucht, durch die Herausarbeitung der Zusammenhänge „ein wenig Klarheit ins tagepolitische Chaos zu bringen“  (S. 11). Das besonders Spannende an diesem Buch ist, dass es einerseits eine chronologische Dokumentation der Entwicklungen eines „schrecklichen“ Jahres darstellt. Andererseits setzt sich Kepel mit der Ideologie und Methoden des politischen Islams systematisch auseinander und erarbeitet mögliche Szenarien für die Entwicklung französischer Gesellschaft über ihre Spaltung hinweg bis zu ihrem Bruch.
Die terroristischen Anschläge auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015, die Tötung jüdischer Kunden im Supermarkt Hyper Cacher an der Porte de Vincennes, die Ermordung des achtzigjährigen Priesters Pater Jacques Hamel während der Morgenmesse, ein vereitelter Anschlag auf die Notre-Dame de Paris durch das erste weibliche Dschihadisten-Kommando, die Ermordung eines zum „Abtrünnigen“ deklarierten Polizisten nordafrikanischer Herkunft und einer Polizistin von den Antillen, der Massenmord im Theatersaal des Bataclan in Paris sowie der Anschlag  auf der Promenade des Anglais in Nizza am 14. Juli 2016 sind laut Kepel „keineswegs Einzeltaten“: „Die Morde bildeten den Auftakt des Dramas, in dem mit insgesamt zweihundertneunundreißig Opfern bis zum Sommer 2016 das Blut der Nation vergossen und ihre Symbole und Werte systematisch zerstört wurden“ (S. 33). Die Unfähigkeit der politischen Elite, diese Signale genau zu verstehen, das Ganze in die richtige Perspektive zu setzten und dschihadistischer Gefahr entschieden entgegenzutreten, führt dazu, dass die Ursache des Übels in der „Islamophobie“ der französischen Gesellschaft gesucht wird und bei der Deutung einzelner Tatbestände vorrangig psychologische Probleme der Täter in den Blick genommen werden.  Islamophobie ist hingegen der wichtigste Zweck der Terroranschläge: Werden alle Muslime für die Terroranschläge der Dschihadisten an den Prange gestellt, verteufelt und durch öffentlich wirksame Regelungen wie z. B. Burka-Verbot sanktioniert, so rechnen die dschichadisten Drahtzieher damit, dass „die Muslime aus den Enklaven der Problemviertel zusammenschweißen, sich mobilisieren und gegen die Gesellschaft aufstehen“ (S. 37). Gleichzeitig reisen Mitglieder des sog. Islamischen Staats im Schutz des Flüchtlingsstroms quer durch die Europäische Union „und legen eine beeindruckende Koordination und logistische Fähigkeit an den Tag“ (S. 38). Dschihadismus sieht Kepel als „Ergebnis eines Prozesses, der gleichzeitig im Rahmen zweier Kontexte abläuft: im Nahen Osten und in Nordafrika einerseits, in der französischen Gesellschaft und ihren benachteiligten Vorstädten andererseits“ (S. 58). Dieser facettenreiche Prozess greift tief in die französische Gesellschaft ein und hat direkte Konsequenzen auf die politische Landschaft in Frankreich. Denn Teil der französischen Gesellschaft, der nicht muslimischen Glaubens ist, sucht die Lösung des Problems darin, bei Wahlen die extreme Rechte und den Front National zu wählen. Dies bezeichnet Kepel als „Kongruenz“ zwischen dem Aufstieg der extremen Rechten und dem Erstarken des Dschihadismus in Frankreich. So werden zwischen Identitäten und Gemeinschaften Barrieren hochgezogen und zwischen ethnisch-rassistischer versus religiöser Zugehörigkeit, echten Franzosen versus falschen Franzosen, guten Muslimen versus Apostaten oder Ungläubigen differenziert  (S. 102-103). Die dschichadistische Logik und die Wahnvorstellung sind, dass der gesellschaftliche Bruch sich zu einem Bürgerkrieg ausweitet und sie auf die Ruinen Frankreichs ein islamistisches Kalifat errichten können. Dabei stellt der Autor fest, dass Jugendliche und junge Erwachsene mittlerweile anfälliger für die Ideologie des Dschihadismus der dritten Generation sind, „weil sie eine zentrale Rolle bei der Umsetzung des Bürgerkriegsprojekts erhalten“ (S. 193). In diesem Zusammenhang weist Kepel auf zwei im August 2016 von Dschichadisten ins Netz gestellten Dokumente mit den Titeln „Gezielte Angriffe“ und „Massenangriffe“ hin. Im zunächst genannten Dokument wurden neben einer Anleitung für gezielte Attentate 35 Personen aus den Rubriken „Religiöse“, „Politiker“, „ Pädokriminelle“, „Verbandsarbeit“, „Sicherheit – Justiz“, „Anti-Islam-Experten“, „Kultur“, „Medien“ und „Bildung“ namentlich genannt. Im zuletzt genannten Dokument wurden die Attentate vom Juni und vom Juli 2016 systematisch eingeordnet, die angewandte Strategie geklärt, der modus operandi klarstellt und dazu aufgerufen wird, diesen Weg weiterzugehen (S. 173). Diesem Aufruf sind konkrete Angriffe gefolgt, die Kepel identifiziert und tiefergehend analysiert.

Bei der Analyse der einzelnen Taten und des Prozesses, den Kepel als Bruch der französischen Gesellschaft bezeichnet, ist der große historische Kontext für den Autor stets von hoher Bedeutung. Dies verdeutlichen zwei Zitate auf der ersten Seite des Buches sehr eindrucksvoll. Das erste Zitat stammt aus einem Hadith – „Die Tinte des Gelehrten ist kostbarer als das Blut des Märtyrers“ – und ist vermutlich eine direkte Antwort zu europäischen und insbesondere französischen Dschihadisten, die Kepel auf die o. g. Todesliste von 35 namentlich genannten Personen als „Kollaborateure der Auslandspolitik gegen das Kalifat“ gesetzt haben (S. 173). Das zweite Zitat stammt aus dem Buch von Dostojewski „Böse Geister“ (1871). Ein Zusammenhang zwischen zwei Büchern und somit zwischen zwei völlig unterschiedlichen literarischen Stilen und historischen Epochen liegt in der Beschreibung der Morde und Gewalt als ein längst bekanntes Mittel, um schwache Stellen der Gesellschaften aufzuspüren, die Fundamente und sämtliche Prinzipien dieser Gesellschaften gezielt anzugreifen, zu erschüttern und systematisch zu zerstören. Während Dostojewski im o. g. Werk den politischen Zustand in vorrevolutionären Russland des späten 19. Jahrhunderts beschreibt, strebt Kepel als Soziologe an, eine stimmige Diagnose des aktuellen Zustands der französischen Gesellschaft zu formulieren. Wenn die Diagnose unstimmig ist, dann ist auch jede Therapie  zwecklos. Stimmt die Diagnose, dann bedarf es letztendlich politischen Entscheidungen, die die Entwicklungen gegensteuern können.  Nur bleiben Akademiker oft von der Politik weder gesehen noch gehört. So konstatiert Kepel selbst recht pessimistisch: In der Zeit, wenn die Zukunft der französischen Gesellschaft auf dem Spiel steht, werden die französischen Politiker sein Buch nicht lesen und auch die anderen nicht. Dies ist aber dringend geboten und zwar nicht nur für die Politiker, sondern für alle.

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Irina Volf

Literatur:

Volf, I. (2011): Comparative quantitative and qualitative content analyses of coverage of Hizb ut-Tahrir in German, British and Kyrgyz quality newspapers in 2002-2007. Konstanz: Konstanzer-Online-Publikations-System. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-140673

 

     
 

Über die Autorin: Irina Volf erwarb den Titel eines Dr. rer. soc. in Psychologie an der Universität Konstanz (Deutschland). Zurzeit arbeitet sie als Bereichsleiterin der Themenbereiche „Armut“ und „Migration“ am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main
eMail: wolf.irina@gmail.com.

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