conflict & communication online, Vol. 21, No. 2, 2022
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ISSN 1618-0747

 

 


Einleitung

 

 

 

Globale Solidarität und Verantwortung

Paulo Freire gilt bis heute als Wegbereiter und Inspirationsquelle zahlreicher progressiver Ansätze in Bildungswissenschaft und pädagogischer Praxis. Mit der von ihm in den 1950er Jahren entwickelten dialogisch-situativen Didaktik gelang es, in wenigen Wochen Erwachsene zu alphabetisieren. Hierbei ging es nicht nur um den bloßen technischen Erwerb des Lesens und Schreibens. Das grundlegende Interesse bestand vielmehr darin, die ‚Kultur des Schweigens‘ aufzubrechen, in der die Unterdrückung aufrechterhalten wird, und eine ‚Kultur des Dialogs‘ zu etablieren, in der sich Chancen zur gesellschaftlichen Veränderung entfalten. Reflektiert hat Freire diese Form der gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung u.a. in seinem 1970 in Brasilien erschienenen Buch Pädagogik der Unterdrückten, das ihn weltweit als kritischen Pädagogen, Bildungstheoretiker und Sozialaktivisten bekannt machte. 
Während sich seine Arbeit ursprünglich auf die Bekämpfung von Armut, Analphabetismus und Unterdrückung in den wirtschaftlich benachteiligten Ländern der Welt bezog, inspiriert sein Wirken zum alternativen/unkonventionellen Nachdenken über die globale Gegenwart. Globalisierung und Digitalisierung ermöglichen zum einen transnationale Kommunikation, zum anderen spitzen sich als Folge neoliberaler Reformen soziale Unterschiede weltweit zu und krisenhafte Ereignisse wie Kriege, Umweltkatastrophen oder Pandemien prägen sämtliche Bereiche des heutigen Lebens. Freires Kampf für eine Bildung als Praxis der Befreiung ist damit aktueller denn je!
Das vorliegende Themenheft Globale Solidarität und Verantwortung entstand im Anschluss an die Tagung „Solidarität in der globalen Gesellschaft. Dialog und Befreiung in einer digitalen Zukunft“ (14. bis 16. Oktober 2021), die anlässlich des 100. Geburtstages von Paulo Freire an der Paris Lodron Universität Salzburg stattfand.
Die Beiträge verbindet die Idee, zentrale Konzepte des einflussreichen Gesellschaftswissenschaftlers aus Brasilien für einen angemessenen Umgang mit aktuellen Entwicklungen fruchtbar zu machen.Freires kritische Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit, sein Einspruch gegen die ‚Kultur des Schweigens‘ und dem im Bildungssystem dominierenden ‚Banking-Konzept‘, die hierbei entwickelten emanzipatorischen Konzepte des problemzentrierten, dialogischen Lernens und der Bewusstseinsbildung (conscientização), seine radikale Kritik am bestehenden, durch Postkolonialismus und Neoliberalismus geprägten kapitalistischen System und nicht zuletzt sein Engagement für globale Solidarität und Gerechtigkeit bieten hierfür zahlreiche theoretische und praktische Anregungen. Hiervon angeregt setzen sich die folgenden Aufsätze kritisch mit unterschiedlichen aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander – sie eröffnen neue wissenschaftliche Perspektiven auf Bildung, gesellschaftliche Integration, Prekarität, Migration und Soziale Arbeit.

Kritische Erwachsenenbildung & Integrationsforschung

Christine Zeuner setzt sich in ihrem Aufsatz mit ‚Gesellschaftlichen Kompetenzen‘ als Konzept kritischer politischer Erwachsenenbildung im Anschluss an Oskar Negt auseinander. Ausgehend von biographischen Kontextualisierungen zu seiner Person werden die ‚Gesellschaftlichen Kompetenzen‘ erläutert und der Frage nachgegangen, welche Bedeutung diesen, besonders der ‚Gerechtigkeitskompetenz‘, heute zukommt.
Jan Skrobanek und Solvejg Jobst reflektieren in ihrem Beitrag die methodischen Implikationen der Operationalisierung und Messung von ‚Liquid Integration‘. Inspiriert von Freires gesellschaftskritischen Diagnose der sektiererischen Produktion einer ‚vorbestimmten Zukunft‘ betonen sie den genuin prozesshaften und kontinuierlichen Charakter von gesellschaftlicher Integration und regen damit die kritische Auseinandersetzung über methodische Fragen in der Integrationsforschung an.

Prekarität - Flucht & Migration - Soziale Arbeit

Das Thema Kinderarmut wird von Dominik Novkovic bildungstheoretisch in den Blick genommen. Der Autor diskutiert die Notwendigkeit einer Neukonturierung der Sozialen Arbeit als gesellschaftskritische politische Bildung vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen. Dabei geht er auf die Frage(n) ein, wie Bildung unter Rückbezug auf Paulo Freires befreiungspädagogischen Ansatz zu verstehen ist und welche Konsequenzen sich daraus für eine bildsame Soziale Arbeit ergeben müssen.
Georgia Manafi, Angeliki Manafi und Wassilios Baros berichten von zwei Untersuchungen mit prekären Bevölkerungsgruppen in Griechenland. Mittels Latenter Klassenanalyse wurden Haltungen gegenüber sozialer Ungerechtigkeit von Menschen, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, ermittelt. Die Autor:innen diskutieren aus der Perspektive der kritischen Pädagogik inwiefern Prekarität als Motor für Solidarität und gesellschaftlicher Veränderung angesehen werden kann.
Aida Kell-Delić, Ioannis Kourtis und Wassilios Baros untersuchen auf der Grundlage einer Studie zum Einsatz von Extended Reality Technologien im Kontext von Migrationsforschung das Konzept ‚Critical Literacy‘ und gehen mittels Latenter Klassenanalyse der Frage nach, inwieweit Augmented Reality und Virtual Reality das Potenzial haben, zur Erforschung des kritischen Verstehens und Lesens von sozialen Phänomenen am Beispiel von Fluchtmigration beizutragen.
Tanja Kleibl und Nikos Xypolytas diskutieren die Rolle der Sozialen Arbeit im Zusammenhang mit Erkenntnissen der Flüchtlingskrise auf griechischen Inseln. Auf der Grundlage der Arbeiten von Antonio Gramsci und lateinamerikanischen Befreiungstheoretiker:innen plädieren sie für eine aktive politische Koalition zwischen Sozialarbeiter:innen und Geflüchteten.

Salzburg, im Oktober 2022

Aida Kell-Delic, Miriam Hannig, Wassilios Baros, Solvejg Jobst, Joachim Schroeder & Jutta Lütjen

 

Die Gastherausgeber:innen: Aida Kell-Delić ist Universitätsassistentin und Dissertantin an der Paris Lodron Universität Salzburg im Fachbereich Erziehungswissenschaft und Mitglied in der Projektgruppe Empirische Migrationsforschung Salzburg (PREMISA). Ihre Forschungsschwerpunkte sind erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung, herkunftssprachlicher Unterricht und biographische Bildungsprozesse im Kontext von Migration.
eMail: aida.kell-delic@plus.ac.at

Miriam Hannig ist Dissertantin an der Paris Lodron Universität Salzburg im Fachbereich Erziehungswissenschaft sowie Grundschullehrerin. Zu ihren Forschungsinteressen zählen diversitätssensible und rassismuskritische Schul- und Bildungspolitik, historisches Lernen im Anfangsunterricht sowie Geschichtskultur.
eMail: miriam.hannig@stud.sbg.ac.at

Wassilios Baros ist Professor für Bildungsforschung an der Paris Lodron Universität Salzburg und leitet die Projektgruppe Empirische Migrationsforschung Salzburg (PREMISA). Seine Forschungsinteressen umfassen migrationspolitische Bildungsforschung, Latente Stilanalysen von Kommunikationskulturen und Rezipientenforschung.
eMail: wassilios.baros@plus.ac.at

Solvejg Jobst ist Professorin für Erziehungswissenschaft und akademische Leiterin des Ph.D.-Programms 'Studies of Bildung and pedagogical practices' an der Fakultät für Bildung, Kunst und Sport, Western Norway University of Applied Sciences. Zuvor arbeitete sie als Professorin für Internationale und Interkulturelle Bildungsforschung an der Universität Magdeburg in Deutschland. Sie veröffentlicht und forscht in den Bereichen Lehrerprofession, interkulturelle/internationale Bildung, Bildung für soziale Gerechtigkeit und Forschungsmethodik.
eMail: solvejg.jobst@hvl.no

Joachim Schroeder ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Beeinträchtigungen des Lernens an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Lernen, Erziehung und Bildung unter Bedingungen von Armut, Migration und Flucht, sozialräumliche Schulentwicklung, Bildungsreformen in Lateinamerika und in islamischen Ländern, Alphabetisierung und Grundbildung Jugendlicher und Erwachsener.
eMail: Joachim.Schroeder@uni-hamburg.de

Jutta Lütjen ist Doktorin der Philosophie, Dipl.-Sozialpädagogin, Dipl. Pädagogin, Supervisorin, Coacherin, Organisationsberaterin, Systemische Familientherapeutin, Yogalehrerin und Yogatherapeutin. Ihre Lehr-, Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sokratik, Mäeutik, Dialogisches Lernen, Anthropologie, Aneignungs- und Bildungsprozesse, Bewusstseinsbildung, Befreiungspädagogik, Heterogenität und Differenzierung, Systemische Interventionen, Kommunikation.
eMail: luetjen@panta-rhei.email  Website:  https://userpages.uni-koblenz.de/~luetjen/

 


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