conflict & communication online, Vol. 21, No. 1, 2022
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ISSN 1618-0747

 

 

 

Wilhelm Kempf (2021). Friedensjournalismus. Grundlagen, Forschungsergebnisse und Perspektiven. Mit einer Einleitung von Sonja Kretzschmar und Annika Sehl. Baden-Baden: Nomos.
ISBN 978-3-8487-7142-4, 160 S., 34.- €

Friedensjournalismus als eine Form der konstruktiven Berichterstattung wurde maßgeblich von Johan Galtung, dem Gründungsvater der Friedens- und Konfliktforschung, geprägt. Im Mittelpunkt des Konzepts steht die Lösung des Konfliktes u. a. durch  die Sichtbarmachung der existierenden Friedensinitiativen. Das Verständnis des Friedens basiert dabei auf zwei Komponenten: Gewaltfreiheit und Kreativität. Wilhelm Kempf widmete 25 Jahre dem Forschungsfeld des Friedensjournalismus als Sozialpsychologe und Friedensforscher. Durch experimentelle Studien und empirische Untersuchungen der Berichterstattung über zahlreiche Konflikte trug er wesentlich zum besseren Verständnis der Wirkmechanismen des Friedensjournalismus bei. Für Kempf ist Frieden eine bestimmte (konstruktive) Form des Umgangs mit Konflikten. Von zentraler Bedeutung ist für ihn nicht die Unterbreitung von Lösungsvorschlägen für Konflikte, sondern die Konfliktwahrnehmung in der Gesellschaft, die durch Medien konstruiert wird.
Das Buch (160 Seiten) beinhaltet eine umfassende Einleitung von Sonja Kretzschmar und Annika Sehl, Professorinnen an der Universität der Bundeswehr München, und ist in vier Kapiteln gegliedert.
In Kapitel 1 zeichnet Kempf die Entwicklung des Konzeptes des Friedensjournalismus nach und resümiert die empirischen Erkenntnisse in diesem Forschungsfeld. Er scheut sich nicht von der Kritik an Friedensjournalismus und geht transparent auf die Vorwürfe der Kritiker ein. Inwiefern ist die Vorstellung des Friedensjournalismus mit dem Selbstverständnis des Journalismus, inklusive seiner praktischen Rahmenbedingungen und ökonomischen Zwänge kompatibel? Sein Fazit ist klar: Friedensjournalismus ist machbar. Gleichwohl ist Friedensjournalismus ein anspruchsvolles Unterfangen oder mit Kempfs Worten „durchaus auch die Kunst, zwischen den Stühlen zu sitzen“ (S. 62). Die Auseinandersetzung mit der Kritik wird im Kapitel 3 fortgesetzt.
In Kapitel 2 wird das Konzept des Friedensjournalismus mit dem Konzept der Kriegspropaganda kontrastiert. Dabei greift Kempf auf seine früheren Publikationen zurück und stellt die konflikttheoretischen Grundlagen sowie die Grundlagen in Propaganda- und Kommunikationstheorie ausführlich dar. Extrem verkürzt lassen sich die Modelle der Kriegspropaganda und des Friedensjournalismus wie folgt zusammenfassen: Während Kriegspropaganda ein Prozess der Eskalation der Konfliktwahrnehmung darstellt, ist Friedensjournalismus als ein Prozess der schrittweisen Deeskalation der Fehlwahrnehmungen zu verstehen. Dieser Prozess ist allerdings umso schwieriger zu gestalten, je fortgeschrittener und verfestigter die Konflikte sind. In Kriegszeiten, wenn die Konflikte die höchste Stufe der Konflikteskalation bereits erreicht haben, ist dies besonders schwer, da der Prozess keineswegs linear verläuft und sich Wahrnehmungsverzerrungen bereits zu gesellschaftlichen Grundüberzeugungen verdichtet haben.
In Kapitel 3 holt Kempf nach, was er und Galtung in ihren bisherigen Ausführungen über Friedensjournalismus verabsäumt hatten: Er definiert und systematisiert die zentralen Begriffe des Friedensjournalismus wie Krieg, Frieden, Konflikt, verschiedene Formen von Gewalt sowie Gewaltfreiheit. Eine tabellarische Darstellung der Definitionen lässt der Leserschaft einen schnellen Überblick über die Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Definitionen differenziert nach dem Verständnis der Begriffe im Alltagssprachgebrauch, bei Galtung und bei Kempf verschaffen. Mit diesem Schritt löst Kempf teilweise das Spannungsfeld zwischen ihm und Galtung auf der einen Seite sowie Lynch und McGoldrick und den Kritikern des Friedensjournalismus, Hanitzsch und Lyon, auf der anderen Seite auf. Aufbauend darauf zeigt er anhand konkreter Beispiele, wie die von Kempf und Galtung formulierten Ansprüche und Forderungen an konstruktive Berichterstattung bei der Übersetzung in journalistische Praxis z.T. reduziert, verzerrt und missverstanden wurden. Erneut bringt Kempf die Aufgabe des Friedensjournalismus nach seiner Auffassung auf den Punkt: Es ist „nicht die Deeskalation oder Lösung von Konflikten (das können nur die Konfliktparteien selbst), sondern die Deeskalation der Konfliktwahrnehmung und der Abbau von Kommunikationsbarrieren zwischen den Konfliktbeteiligten. […] Absichtsvolle Entscheidungen, welche Teile der Wirklichkeit sie [die Journalisten, Anm. d. V.] berichten und welche sie verschweigen (Nachrichtenselektion) und wie sie diese darstellen (Framing), sind nicht Sache des Journalismus, sondern gehören in die Domäne von Propaganda und Public Relations“ (S. 108).
In Kapitel 4 wird konstruktive Berichterstattung über Verhandlungen thematisiert. „Dem Frieden eine Chance zu geben“ ist ein Appell Kempfs, der wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht und im abschließenden Kapitel von zentraler Bedeutung ist. „Dem Frieden eine Chance zu geben“ ist für ihn eine Zielsetzung und gleichzeitig eine Grenze des Friedensjournalismus. So zielt der Friedensjournalismus – früher als Pendant zur Kriegspropaganda und heute als eine Art der konstruktiven Berichterstattung – darauf ab, den Wahrnehmungsverzerrungen in Konflikten deeskalierend entgegen zu wirken und eine kooperative Streitbeilegung zu fördern. Als Teil des journalistischen Repertoires stößt er allerdings an die Grenze, diesen Effekt nur bei (noch) gemäßigten Segmenten einer Gesellschaft erzielen zu können. Des Weiteren kann auch die beste Berichterstattung nichts tun, wenn „der Wille zur Konfliktlösung fehlt und Verhandlungen als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln geführt werden […]“ (S. 138). Anhand von konkreten Beispielen – u. a. Verhandlungen um die erste EZB-Präsidentschaft, Maßnahmen zur Eindampfung der COVID-19 Pandemie, eine Zwei-Staaten Lösung für Israel und Palästina, Brexit, die BDS-Kampagne der palästinensischen Zivilgesellschaft, den nordirdischen Friedensvertrag und österreichische Asylpolitik – zeigt Kempf viele Wirkmechanismen in Gruppenprozessen bei verschiedenen Arten der Konfliktbearbeitung und Verhandlungsführungen, zieht daraus Schlussfolgerungen für eine konstruktive Berichterstattung und erarbeitet Empfehlungen für die journalistische Praxis.
Zusammenfassend kommen positive Wirkungen des Friedensjournalismus dann zur Entfaltung, wenn sich Redakteure und Journalisten über ihren Anteil zur Konstruktion der sozialen Realität bewusst sind und dafür Verantwortung tragen, dem Frieden eine Chance zu geben. Somit sollen die Grundregeln des Friedensjournalismus nicht erst bei eskalierenden Konflikten, sondern bereits bei der Berichterstattung während gewaltfreier Konfliktphasen eingehalten werden. Auf dem Weg zu mehr Sensibilität für den Einfluss der Medien auf die Kriegs- und Friedensprozesse stellt das neue Buch von Kempf ein Soll für die interessierte (Fach-)Öffentlichkeit im Allgemeinen und ein Muss für angehende und praktizierende Journalisten dar.

Irina Volf

 

     
 

Die Autorin: Dr. Irina Volf erwarb ihren Doktortitel in Psychologie an der Universität Konstanz. Aktuell ist sie Bereichsleitung der Themenbereiche Armut und Migration am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main und unterrichtet Evaluation in Sozialer Arbeit an der Frankfurter University of Applied Science.

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